Ernst Haeckel an Charles Lyell, Jena, 27. November 1868
Jena 27 November 68.
Hochverehrter Herr!
Durch Ihren heute erhaltenen Brief haben Sie mir eine sehr grosse Freude bereitet. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre freundlichen Zeilen, und für die wohlwollende Theilnahme, welche Sie meinen Bestrebungen schenken. Ein junger Schriftsteller, welchem der „Kampf um’s Dasein“ noch recht sauer gemacht wird, kann für seine aufrichtigen Bemühungen keinen schöneren Lohn erhalten, als die Zustimmung und Billigung von jenen erfahrungsreichen Koryphaeen ihres Faches, deren Verdienste sie selbst am höchsten schätzen und in deren Forschungs-Bahn sie selbst weiterschreiten. Daher hat mir Ihre Zustimmung zu meinem Versuch einer „natürlichen Schöpfungsgeschichte“ ganz besondere Freude gemacht, und sie soll mir ein neuer Sporn sein, mutig auf der von Ihnen geebneten Bahn der Naturforschung fortzuschreiten! ||
Sie werden aus meinem Buche gesehen haben, wie hoch ich die von Ihnen empfangenen Ideen schätze, und wie Viel ich aus Ihren Werken gelernt habe. Es war mir eine besondere Freude, im sechsten Capitel hervorheben zu können, wie Viel Sie schon vor Darwin, schon 30 Jahre früher, für eine naturgemässe Auffassung der Continuität in allen Erscheinungen gethan haben, was so oft vergessen wird. Nachdem Ihre „Principles of Geology“ den continuirlichen Zusammenhang der ganzen anorganischen Erdgeschichte nachgewiesen hatten, war es eigentlich reiner Unsinn, noch von einer wiederholten Neuschöpfung der organischen Welt, von einer „Meublirungs“-Theorie im Sinne von Cuvier und Agassiz zu reden! Aber wie viel vermag der falsche Glanz der Autorität! Ganz gewiss war an jener Verkennung Cuviers Autorität Schuld, welche auch in der Zoologie so vielen Schaden angerichtet hat. ||
So z. B. that Blainville schon 1816 und 1822 die beiden wichtigsten Fortschritte in der Classification der Wirbelthiere, die Trennung der Amphibien von den Reptilien, und die Eintheilung der Säugethiere nach Placenta, ohne dass Cuvier diesen Fortschritte adoptirte. Und die meisten Zoologen behielten, Cuviers Autorität folgend, die frühere, schlechtere Classification bei! So geht es in Vielen!
Indessen weiss glücklicher Weise die Geschichte der Wissenschaft jene Verkennungen und Ungerechtigkeiten früher oder später doch wieder auszugleichen, und schliesslich, wenn auch oft erst spät, werden die oft vergessenen Verdienste früherer Autoren doch endlich anerkannt! So wird es auch mit der allgemeinen Entwickelungs-Theorie gehen, bei deren Beurtheilung man gegenwärtig über die Verdienste der früheren Natur-Philosophen so viel hinwegsieht; und doch hat auch jede Theorie ihre langsame, stufenweise und allmählige Entwickelung durchgemacht. ||
Für Ihre kritischen Bemerkungen über die Tafeln und besonders das Titelbild zur Schöpfungsgeschichte danke ich Ihnen sehr, und ich werde dieselben bei einer zweiten Auflage, welche hoffentlich bald erfolgen kann, bestens benutzen. Ich glaube übrigens kaum, dass ich die Alfurus, Neger und Papuas zu sehr „pithekoid“ gezeichnet habe. Wenn man die Portraits in den älteren Reisewerken, besonders „En-Face“ Ansichten von Negern und Australiern vergleicht, findet man oft noch mehr affenähnliche Gesichter. Leider sind die meisten Porträts von Wilden „en face“, und nur wenige in Profil gezeichnet.
Mit der Versicherung der ausgezeichnetsten Hochachtung, mein hochverehrter Herr, und mit wiederholtem Danke für Ihren sehr freundlichen Brief, bleibe ich
Ihr von Herzen ergebener
Ernst Haeckel
P. S. Darf ich bitten, Mrs. Lyell meine ergebensten Complimente auszudrücken!