Engelmann, Theodor Wilhelm

Theodor Wilhelm Engelmann an Ernst Haeckel, Utrecht, 30. Juni 1888

Utrecht 30/6. 88

Lieber Freund!

Vor einigen Tagen war Fürbringer im Auftrage einiger Collegen der medicinischen Fakultät in Jena bei mir um zu hören, ob eine eventuelle Berufung an Preyers Stelle Aussicht hätte von mir angenommen zu werden. Die Frage kam mir zu überraschend, als daß ich sie sofort in ihrer Tragweite ganz zu überschauen und entsprechend bestimmt zu beantworten im Stande gewesen wäre. Doch war mir sofort klar, daß die Wagschale bei näherer Ueberlegung wohl mehr und mehr zu Gunsten Jenas sinken würde. Am nächsten Morgen schrieb ich dann auch an Fürbringer, daß ich es für sehr wahrscheinlich || hielte, daß ich annähme, falls die mir gebotenen Bedingungen (Laboratorium, Hilfsmittel u.s.w.) nicht einen sehr deutlichen Rückschritt gegena hier einschlössen. Ich weiß nicht, ob diese Erklärung in Jena genügt, um ernstlich an mich zu denken. Aber je mehr ich die Sache erwäge, um so mehr fühleb ich, daß ich es sehr bedauern würde, wenn mir diesmal die Gelegenheit nach Deutschland zurückzukehren von vornherein verschlossen werden sollte. Als ich nach Freiburg und nach Zürich berufen wurde, lagen die Verhältnisse für mich so, daß ich nicht wohl anders als ablehnen konnte. Auch habe ich letzteres niemals bereut. Inzwischen hat sich sehr Vieles geändert – nicht in meiner hiesigen Stellung, die mir Alles bietet was ich billig verlangen kann, in jeder Beziehung, sondern hauptsächlich in Bezug auf meine deutschen Verhältnisse. Durch den Tod meines Bruders bin ich gewissermaßen das Haupt und die Stütze unser gesammten Familie geworden – es ist kein anderer Mann da, der diese Stelle jetzt oder im Laufe der nächsten 10–20 Jahre einnehmen könnte. Ich meine das || nicht in Bezug auf die Leitung derc Buchhandlung, die in den besten Händen ist und meinerseits nur eine sehr indirekte, so gut wie keine Zeit raubende Theilnahme erfordert, sondern überhaupt in Bezug auf alle gegenwärtigen und zukünftigen Interessen meiner Familie. Ich muß aus diesen Gründen schon wünschen, dauernd in Deutschland zu leben und da weiß ich keinen Ort an dem ich das lieber thäte als Jena. Hier bin ich nahe genug, um mit Rath und That den Meinigen beizustehen und doch frei, den Verpflichtungen enthoben, welche die Anwesenheit zahlreicher Verwandter am gleichen Orte unvermeidlich nach sich zieht. Zeit und Kraft blieben ganz der Erfüllung des Berufs erhalten.

Ich brauche Dir nicht die Gründe zu entwickeln, aus denen sonst noch Jena mir so besonders anziehend erscheint. Es sind glaube ich dieselben, welche Dich bisher dort gehalten haben und wohl halten werden. Und für mich kommst Du selbst noch hinzu, ohne den ich mir Jena nicht denken mag.

Ob ich nun der Mann bin, den Ihr haben müßt, weiß ich nicht; glaube aber, obschon ich mir meiner vielen Mängel sehr wohl bewuß bin, daß Ihr doch wohl noch schlechter fahren || könntet, auch ohne gerade nach Jung-Israel zu greifen. Was mir fehlt und was Ihr nicht erwarten dürft, sind hervorragende Kenntnisse und produktive Leistungen auf mathematischem und speciell-chemischen Gebiet. Für erstere fehlt mir, nicht Lust und Interesse, aber der Grad von Anlage, der allein eine dauernde, zu höherer Ausbildung in diesem Fach d führende Beschäftigung e motiviren könnte. Die Zeit die ich nöthig gehabtf hätte, um mit den Operationen der höheren Mathematik vertraut zu werden, habe ich, wie ich meine besser, auf andere Studien verwandt. Doch meine ich immerhin soviel, wie für den Unterricht nöthig, inne zu haben, und in mathematischer Betrachtung und Auffassung von Naturerscheinungen (die nicht immer Sache der specifischen Mathematiker ist) genügend geübt zu sein.

Auch in der speciellen organischen Chemie bin ich nicht so bewandert, wie ich selbst oft wünsche. Dies Gebiet hat sich seit meinen Studienjahren so voran entwickelt, Terminologie, System, Theorie, Methoden, Alles ist so sehr anders geworden, daß ich nicht sagen kann, ich fühle mich darin zu Hause. Inzwischen ist für den Unterricht wohl genug eingedrungen. Auch glaube ich unterscheiden zu können zwischen der jetzt so viel geübten physiologischen Chemie, || die weder Chemie noch Physiologie ist und jener wahren, ing der auch h Nichtchemiker wie Johannes Müller, Schwann, Donders, du Bois-Reymond, Helmholtz Großes, Bleibendes leisteten. Und mit einigem Eifer würde auch wohl noch manche Lücke meinerseits noch anzufüllen sein. Legt man aber den Schwerpunkt auf physiologische Chemie, so bin ich nicht der Mann.

Daß ich vielleicht etwas mehr morphologische Schulung, als die meisten jüngeren Physiologen habe und daß mir die vergleichende und die genetische Betrachtung für die Physiologie so wichtig wie für die Morphologie erscheinen, wird mir Deinerseits nicht zum Vorwurf gemacht werden. Auch hoffe ich rechnet Ihr mirs nicht als Mangel an, daß mir das Talent der eleganten, populären Darstellung fehlt, der brillante Vortrag der nach außen wirkt.

Und sollte endlich auch meiner Gesundheit gedacht werden, die wie Du vielleicht weißt, mich vor einigen Jahren zwang, von einem mir liebenswürdig angebotenen einjährigen Urlaub Gebrauch zu machen, so kann ich nur sagen, daß sie so ist, daß ich i im vergangenen Jahr nur zwei Stunden wegen Migräne zu versäumen brauchte. Verglichen mit vor 2 Jahren bin || ich jetzt sehr viel leistungsfähiger und habe zudem die feste Ueberzeugung, daß dasj Jenenser Klima meine Kräfte in jeder Beziehung steigern würde.

Du verargst mir nicht, lieber Freund, daß ich – der Noth gehorchend, nicht dem eignen Trieb – so ausführlich von mir rede. Es braucht hoffentlich nie wieder zu geschehen. Aber es liegt mir viel daran, daß Du weißt, wie ich in Bezug auf Jena und überk mich in Rücksicht auf Jena denke.

Auch heute weiß ich noch zu wenig von den jetzigen Verhältnissen bei Euch, von Euren Bedürfnissen, Plänen, Wünschen, als daß ich sagen dürfte: ich komme, wenn Ihr mich ruft. Aber den Schein möchte ich nicht aufkommen lassen, als wünsche ich überhaupt nicht in Frage zu kommen. An Preyer mochte ich mich direkt nicht wenden, da ich ihn nicht genug kenne um einer richtigen Auffassung eines solchen Schritts sicher zu sein. Von Dir weiß ich, daß Du ihn nimmst, wie er gemeint ist und mit der erforderlichen Discretion verwerthen wirst, wenn Du überhaupt dazu Lust hast.

Sollte sich mir eine ernstliche Aussicht auf Jena eröffnen, so würde ich im Laufe des Juli persönlich hin kommen, wohl mit || meiner Frau, an der Du eine große Verehrerin hast u. die Jena auch sonst ein gutes Herz zuträgt.

Bis zum 6ten Juli etwa bleibe hier. Danach bin ich bis etwa zum 15ten in Leipzig bei meiner Mutter (Gellertstraße 7), nachher wohl in Ilsenburg u. Harz mit meiner Familie.

Wolltest Du mir hier oder dorthin einmal ein orientirendes Wort schreiben, so werde ich Dir sehr dankbar sein.

Immer in herzlicher Verehrung

Dein alter

ThW Engelmann.

a korr. aus: mit; b korr. aus: würde; c korr. aus: des; d gestr.: d; e gestr.: damit; f eingef.: gehabt; g gestr.: auf; eingef.: in; h gestr.: wir; i gestr.: nur; j korr. aus: die; k gestr.: auf; eingef.: über

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
30.06.1888
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4175
ID
4175