Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 8. Februar 1911
Jena 8. Febr. 1911.
Hochverehrter Herr Kollege!
Gestern Vormittag wollte ich Sie vor Ihrer Abreise noch im Hôtel begrüßen und Ihnen meinen herzlichen Dank für Ihre höchst wertvolle Energie-Leistung in unserem Monistenbunde wiederholen und besonders für die ausgezeichnete Rede, durch die Sie sich als sein Praesident hier in Jena so wirkungsvoll eingeführt haben. Mein Katarrh hat sich aber verschlimmert, so daß ich mehrere Tage nicht ausgehen darf. So kann ich Ihnen dann nur schriftlich versichern, daß Ihre glänzende und überzeugende Rede am 6. 2. hier allgemein den vorzüglichsten Eindruck hinterlassen hat. ||
Angesichts Ihrer hohen oratorischen Begabung und der wundervollen Klarheit, mit der Sie die schwierigen Probleme der Energetik dem buntgemischten, mehr als tausendköpfigen Publikum verständlich machten, empfand ich mit erhöhter Befriedigung das Glück, das Sie das Bundes-Präsidium übernommen haben: Übrigens müssen wir auch unseren klerikalen und mystischen Gegnern dankbar sein, daß ihre beiden theologischen Vertreter durch ihre unwissenschaftlichen und geradezu kläglichen Versuche, das „Geistesreich“ zu retten und die Ethik für ihren Aberglauben zu reserviren, den Glanz Ihres lichtvollen Vortrages durch ihre dunkle Folie besonders gehoben haben. ||
Mit besonderem Vergnügen las ich heute in der ultramontanen Kölnischen Volkszeitung (Nr. 106, vom 5.2.) eine lange Klage-Predigt über Ihren vortrefflichen Münchener Vortrag (vom 31.1.), in welchem wir Beide gehörig an den Pranger gestellt werden (– ich noch viel schlimmer als Sie! –).
Auf Ihren Vortrag in Weimar (am 18.2.) freue ich mich besonders; ich bin überzeugt, daß Sie gerade in der „Goethe-Stadt“ neue glänzende Lorbern ernten werden!
Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen
treulichst Ihr
Ernst Haeckel.