Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Breitenbach, Jena, 15. August 1912

Jena 15.8.1912.

Lieber Herr Doktor!

Die monistischen Überzeugungen, betreffend Ostwalds absolute „Energetik“, und besonders seine merkwürdige Sonntagspredigt Nr. 61, die Sie in Ihrem heute erhaltenen Briefe äußern, decken sich vollkommen mit denjenigen, welche ich seit 12 Jahren in der Verteidigung meiner „Welträtsel“ wiederholt vertreten, und erst in den letzten Tagen in Gesprächen mit Dr. Heinrich Schmidt eingehend erörtert habe. Da die prinzipielle Differenz zwischen mir und Ostwald in Betreff des Materie-Begriffes sehr wichtig ist, werde ich in den nächsten Tagen eine kurze Adresse darüber an den II. Deutschen Monisten Kongress richten, welche Dr. Heinrich Schmidt am 6. September in Magdeburg verlesen soll. || Im Interesse unseres reinen Monismus (– gegenüber der Konfusion, welche die widerspruchsvollen „Pseudo monismen“ veranlasst haben –) würde ich es für gut halten, daß Sie in der nächsten Nummer Ihrer trefflichen „Neuen Weltanschauung“ auf die hohe principielle Bedeutung dieser Fragen hinwiesen und besonders folgenden Punkt betonten:

– 1. Hkl. hält unverändert an der allgemeinen Geltung seines „Substanz-Gesetzes“ fest, wie er sie 1899 im 12. Kapitel seiner „Welträtsel“ formulirt hatte.

– 2. Sein „Reiner Monismus“ ist ebenso wenig identisch mit dem alten „Materialismus“, wie mit dem neuen „Spiritualismus“, den Ostwald als „Energetik“ bezeichnet (Schlußsätze von Kap. I. der Welträtsel). ||

– 3. Hkl. hat im 12. Kap. der We. seinen Substanz-Begriff klar definiert: Die Materie besteht aus dem imponderablen Aether (der „Gespannten Substanz“) – kontinuirlich, Alles durchdringend – und aus der ponderablen Masse (atomistisch, diskontinuirlich).

– 4. Der Begriff der Materie ist allein die „Raumerfüllung“ (oder Ausdehnung, Spinoza); es giebt keinen „Leeren Raum – keine Energie ohne Materie“ (Ostwald).

– 5. Hkl. hat in den „Lebenswundern“ (1904) im Kap. 19. – den Energie-Begriff insofern modifizirt, als er neben die 2 ursprünglichen Fundamental-Attribute der „Substanz“ (Ausdehnung und „Denken“, Spinoza) als drittes allgemeines Attribut noch die Empfindung stellt; Andere trennen diese nicht von Energie. ||

Ostwald (– von dem ich seit einem halben Jahre Nichts direkt gehört habe –) scheint den Aether jetzt überhaupt aufzugeben. Er ist fabelhaft activ und gedankenreich; aber es fehlt ihm an umfassender biologischer Bildung. Auch verirrt er sich bisweilen in sehr bedenkliche Bahnen – so mit seiner „Brücke“ (– nach der Ansicht Vieler – auch meiner –) ein kolossaler „Babylonischer Turm“, dessen Ausführung unmöglich ist.

– Mit Bedauern erfuhr ich aus dem neusten, eben erhalten Nr. (8) Ihrer Zeitschrift, daß es an Abonnenten fehlt. Ich trage gern mein kleines Scherflein bei, indem ich auf weitere 2 Explre. abonniere.

– Meine Gesundheit nimmt langsam ab. Ich kann kaum mehr gehen, und habe viel Schmerzen. Ich bereite Alles zur letzten Reise vor, in die – „Nirwana“! –

Mit herzlichen Grüssen

Ihr alter

Ernst Haeckel.

J. 15.8.12.

P.S. Ein älterer Freund und früherer Schüler von mir (der sich „Amicus Veritatis“ nennt) hat kürzlich für mein Phyletisches Archiv 36.000 Mk geschenkt. Aus den Zinsen dieses festen Kapitals (= 1200 Mk pro Jahr) soll ein Archivar angestellt werden, der meine reichen (– in ihrer Art einzigen –) Materiale zu einer „Geschichte der Entwickelungslehre“ verarbeiten soll. Zunächst habe ich dieses Amt Dr. Heinrich Schmidt übertragen; als eventuelle Ersatz-Männer (falls er die mehrjährige Arbeit nicht ausführen kann oder will) habe ich vorläufig Sie; Bölsche und Walther May genannt.

E. Hkl.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
15.08.1912
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Archiv des Helmholtz-Gymnasiums Bielefeld
ID
41110