Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 6. April 1905

Jena 6. 4. 1905.

Liebe und hochverehrte Freundin!

Endlich komme ich (– von Arbeit aller Art gedrängt –) dazu, Ihnen für Ihren lieben Brief zu danken.

Daß Sie auf die erwünschte Besprechung der „Lebenswunder“ verzichtet haben, begreife ich vollkommen; auch Prof. Jodl, der meinem Monismus sehr nahe steht und das Buch besprechen wollte, scheint nicht dazu zu kommen. Es ist mir überhaupt noch keine eingehende Recension zu Gesicht gekommen. Das Buch enthält manche neue (– und wie ich glaube, fruchtbare –) Gedanken; aber es ist nicht leicht und wohl zu sehr mit gelehrtem biologischen Ballast belastet. ||

Mit Bedauern höre ich, daß Sie und unser Freund Müllner letzten Winter von Krankheit und anderem Ungemach vielfach zu leiden hatten. Hoffentlich geht es jetzt wieder besser. Auch für uns war der Winter nicht erfreulich. Meine arme Frau war längere Zeit wieder krank; sie ist sehr depremirt durch das andauernde (wohl unheilbare) Gemüthsleiden unserer jüngeren Tochter, die jetzt in einem Sanatorium untergebracht ist. Außerdem fange ich jetzt an, die Resignation und Einsamkeit des Alters (– mit 71 Jahren!) recht zu empfinden, zumal mir einige der nächststehenden Familien-Mitglieder und Freunde durch den Tod entrissen wurden. Besonders schmerzlich || war mir der Tod einer geistreichen und liebenwürdigen Schülerin – einem Edelfräulein von 39 Jahren, aus orthodoxer Familie von altem Adel, zur Äbtissin bestimmt! – Dichterin und Malerin – sie hatte sich durch die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ zum reinen Monismus durchgearbeitet. Ich habe sie (seit 6 Jahren) nur wenige Tage kurz gesehen, aber viele Briefe mit ihr gewechselt: Ich hoffte vergeblich, sie mit Ihnen bekannt zu machen. – Auch der Tod meines verdienstvollen Freundes Prof. Abbe, Gegenbaur, des Verlegers E. Strauss u.A. haben schwere Lücken in meinen nächsten Freundeskreis gerissen. ||

Jetzt habe ich die Vorbereitungen zu meiner letzten größeren Arbeit begonnen: „Lebens-Erinnerungen“ (Auch Ihnen wird darin ein freundliches Gedenkblatt nicht fehlen!).

Nächsten Freitag (14. 4.) werde ich in Berlin (in der Singakademie) einen öffentlichen Vortrag halten: „Entwickelungslehre oder Kirchenglauben“. Veranlaßt bin ich durch dringende Bitten von Berliner Freunden und durch den Jesuiten-Pater Wasmann, der (als Ameisenforscher) Darwinist geworden ist und „Kirchliche Abstammungslehre“ predigt!! (Vergleiche Escherich, Münchener Allgemeine Zeitung Nr. 34, 35, vom 10/11 Februar 05). Mit herzlichen Grüßen an Sie und Freund Müllner

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
06.04.1905
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Wien
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90698
ID
40888