Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 4. September 1898

Jena 4. 9. 1898.

Hochverehrtes liebes Fräulein!

Für Ihre freundliche, erst heute hier erhaltene Postkarte aus unserem lieben Salzburg danke ich Ihnen herzlich, ebenso für Ihre frühere Einladung zum Besuch in Wörishofen, der ich leider nicht Folge leisten konnte. Hoffentlich hat die Kneipp’sche Wasser-Cur die besten Folgen für Sie gehabt und zwar für Beide Bestandtheile Ihres Einzigen „Ich“, den unsterblichen (‒ Dichter ‒) „Geist“ und die sterbliche (‒ Nerven ‒) „Hülle“ („Calymma nervosum spiritus“!) ||

Vielleicht bewirkt das heilige Kneipp-Wasser an Ihnen noch die umgekehrte Metamorphose wie an dem seeligen Amaranth-Dichter Redwitz!!

‒ Vorgestern bin ich von einer 4 wöchentl. Ferien Reise nach England zurückgekehrt, deren Hauptzweck der Besuch des großen (IV.) Internationalen Zoologen-Congresses in Cambridge war, mit mehr als 400 Mitgliedern, darunter viele mir interessante Ausländer. Mir fiel in der Allgemeinen Versammlung die Aufgabe zu, in Englischer Sprache eine Darstellung zu geben von || „Our present knowledge of the Descent of Man“.

Obgleich ich Englisch ebenso schlecht spreche wie Französisch ging doch das Wagniß gut ab. Da die frommen Engländer nicht gewohnt sind, die Wahrheit ohne Schleier zu sehen, kam ihnen die Vorführung ihrer Ahnen-Reihe (‒ in einer Reihe von Säugethier-Skeletten! à la Huxley ‒) etwas bitter vor; sie beruhigten sich erst, als ich zeigte, daß bereits ihre berühmtesten Naturforscher: Darwin, Huxley, Lyell etc.) die Beweise dafür klar gelegt hätten. ||

Im Übrigen geht es mir nicht besonders! Im Frühjahr hatte ich einen neuen Anfall meines alten Gelenk-Rheumatismus, mit leichter Affection des Herzens. Solche pflegen sich bei älteren Leuten öfters zu wiederholen und zu steigern, bis einmal plötzlich das Lämpchen erlischt! Daher lade ich Sie schon jetzt zur freundlichen Theilnahme an der „Gedächtniß-Feier“ auf der „Ammerbacher Felsplatte“ ein (meinem Lieblings-Puncte in Jena’s herrlicher Berg-Natur); meine Freunde werden daselbst die Aschen-Reste meines „Ich“ (d.h. die Mineral-Bestandtheile meines „Calymma Spiritus“ ) in die Winde streuen (1899???). ||

Inzwischen aber halte ich doch an der Hoffnung fest, Sie und unseren Freund Prof. Müllner noch einmal wieder zu sehen, sei es hier oder in Wien oder Salzburg. Grüßen Sie mir einstweilen herzlich den Moenchsberg und den Aigen-Park, wo ich vor 2 Jahren so schöne Stunden mit Ihnen verleben durfte! –

Von unserem lieben Freunde Carneri habe ich lange nicht gehört; vielleicht senden Sie ihm diese Zeilen als indirecten Gruß? ||

Fast hätte ich das Wichtigste vergessen, nämlich mich Ihnen in meiner neuen Würde vorzustellen als „Doctor Scientiae“!! Die Universität Cambridge hat mir diese (meine IV.) Doctor-Würde am 25. 8. verliehen („in nomine dei patris, filii et spiritus sancti!!“) Meine Freunde behaupteten, ich hätte in dem rothen Mantel wie ein würdiger „Cardinal“ ausgesehen! Ich hoffe Herr Prof. Müllner wird nun vor mir einigen Respect haben!

Mit herzlichsten Grüßen an Sie Beide

Ihr treuer

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
04.09.1898
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Salzburg
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90690
ID
40877