Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 20. Dezember 1897

Jena 20. 12. 1897.

Hochverehrtes Fräulein!

Beifolgend sende ich Ihnen die neunte, so eben erschienene Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“, mit der Bitte, diese alte Freundin auch in ihrer neuen Gestalt freundlich aufzunehmen. Daß das Werk, trotz seiner großen Mängel, nach 30 Jahren (‒ die erste Auflage erschien 1868 ‒) sich noch am Leben erhält, liegt wohl wesentlich daran, daß die „Phylogenie“ noch keine Concurrenz hat. Ein sehr freundliches Lob fand das Buch kürzlich in dem interessanten Roman von Gabriele Reuter: „Aus guter Familie“. ||

Auf S. 811 des II. Theils habe ich auch Ihrer großartigen Dichtungen dankbar gedacht. Kürzlich fand ich beim Aufräumen meiner Bibliothek ein altes, vor 60 Jahren erschienenes Buch über Robespierre, das Sie vielleicht interessirt; ich lege es dieser Sendung bei.

Meine zweimonatliche Reise nach Russland, von der ich Ihnen einige Postkarten schickte, war interessant, aber beschwerlich. In 6 Wochen fuhr ich durch 20 Breitengrade (von Teisko, 62° N. B. bis Tiflis, 42°); besonders interessirten mich Moskau, Kiew, Kaukasus und Krim; großartig ist die Russische Kirche! ||

Hier in Jena habe ich in den letzten Monaten viel Trauriges erlebt; rasch nach einander starben mein einziger Bruder (10 Jahr älter), mein Schwager und ein lieber Neffe. Auch die andauernde Krankheit meiner Frau und Tochter machen mir viel Sorge. So wird wohl Weihnachten für uns traurig sein!

Hoffentlich geht es Ihnen und Herrn Professor Müllner recht gut. Indem ich Ihnen ein vergnügtes Fest und ein glückliches Neujahr wünsche, bleibe ich mit herzlichen Grüßen

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
20.12.1897
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90688
ID
40875