Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Friedrich von Hellwald, Jena, 23. Juni 1874

Jena, 23. Juni 74.

Verehrtester Freund!

Sie werden mich sicher des schwarzen Undanks zeihen, dass ich Ihnen noch kein freundliches Dankeswort auf die gütige Zusendung der drei ersten Hefte Ihrer „Culturgeschichte“ eschrieben habe. Ich habe dieselben mit dem grössten Interesse durchblättert – studirt darf ich ehrlicher Weise leider nicht sagen, da ich seit Monaten nicht dazu gekommen bin, irgend etwas ordentlich zu lesen. Meine ganze Kraft und Zeit ist seit einem halben Jahre auf die Vollendung eines Buches concentrirt, das ich Ihnen noch im Laufe des nächsten Monats übersenden zu können hoffe, und das mir so sehr am Herzen liegt, dass es allein im Stande ist, mein Stillschweigen zu entschuldigen.

Dieses Buch, von welchem ich einen guten Fortschritt im Gebiete unserer Entwickelungswissenschaft hoffen darf, enthält die zusammengedrängten Resultate der Vorlesungen, die ich seit 10 Jahren über Entwickelungs-Geschichte des Menschen halte. Der Titel lautet: Anthropogenie. 26 gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Keimsgeschichte und Stammesgeschichte des Menschen. Mit 11 Tafeln, 200 Holzschnitten und 35 genetischen Tabellen.

Das Manuscript ist ganz in der Form der „natürlichen Schöpfungsgeschichte“ gehalten (von der ich Ihnen demnächst die V. Auflage senden werde). Gleich der letzteren ist es nach meinen freien Vorträgen stenographirt.

Ich habe hier den ersten Versuch gemacht, 1., dem grösseren Kreise der „Gebildeten“ die wichtigsten Thatsachen der menschlichen Ontogenie näher zu bringen; 2., dieselben nach meinem „biogenetischen Grundgesetz“ durch die Phylogenie zu erklären, und 3., dadurch zugleich die thierische Ahnenreihe des Menschen fest zu begründen. Ich hoffe, dass Sie das Buch freundlich aufnehmen und darin eine Ergänzung Ihrer eigenen „Culturgeschichte“ bezüglich der „Cultur-Entwickelung der Zellen“ im Organismus selbst erblicken werden. Zugleich enthält das Buch eine – nicht polemische, aber thatsächliche Widerlegung der heftigen Angriffe, mit denen mich jüngst Huber, Bastian, Claus und andere „Kinder Gottes“ überschüttet haben.

Sollten Sie es angemessen finden, gelegentlich im „Auslande“ zu erwähnen, dass ich an statt speziellen Erwiderungen auf die vielen Angriffe der letzten Monate die thatsäcliliche Begründung meiner Auffassung der Entwicklungslehre und der Theorie vom Causal-Nexus der Keimesgeschichte und Stammesgeschichte in diesem (bei Engelmann im Juli oder August erscheinenden) Buche geben werde, so würde dies vielleicht seiner Aufnahme Vorschub leisten. Sobald es fertig ist, werde ich es Ihnen direct senden.

Auf die Lectüre Ihrer Culturgeschichte, in die ich mich alsdann zu vertiefen hoffe, freue ich mich schon jetzt. Dass ich mit den allgemeinen Ausführungen der I. Lieferung durchaus einverstanden bin, brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen.

Mit den freundschaftlichsten und hochachtungsvollsten Grüssen

Ihr ergebenster

Haeckel.

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
23.06.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
Signatur
EHA Jena, A 39565
ID
39565