Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 20. Juni 1862

Jena 20.6.62.

Heute Morgen hoffte ich schon Deinen bisher vergeblich ersehnten Brief beantworten zu können, liebster Schatz; indessen scheint es, daß Du mich für die, durch die Thüringer Excursion verzögerte, Absendung des letzten Briefs durch gleichen Aufschub bestrafen willst. Indeß will ich doch nicht Böses mit Gutem vergelten, sondern Dir schon heut schreiben, damit Du nicht vergeblich auf die Sonntagsfreude hoffst. Von dieser Woche ist Nichts besonders zu melden. Denn von dem Hochzeitsjubel, der mich schon jetzt ganz erfüllt und Alles Andere in den Hintergrund drängt, brauche ich Dir wohl nicht zu schreiben, da derselbe vermuthlich in Deiner Seele nicht weniger, als in meiner, seinen Sitz aufgeschlagen haben wird. In acht Wochen sind wir beisammen, ganz beisammen und für immer beisammen! Das ist der Gedanke, a vor dem jetzt alle anderen schweigen müssen, und Du kannst Dir selbst denken, wie reizend ich mir schon jetzt die Zeit ausmale, wo ich meine süße kleine Professorin ganz mein nennen darf, und wo keine „felicissima notte“ vom Balcon herunter mich aus ihrem Arm vertreibt. Liebste, beste Änni, was wird das für ein glückliches junges Professor-Päärchen werden! Kaum kann ich den Schluß des Sommersemesters erwarten, dessen Höhe nun glücklicher Weise schon vorüber ist, indem ich höchstens noch 7 Wochen Colleg lesen werde. Den neunten August bei Vollmondschein denke ich schon von || hier abzureisen und am 10. August in der seligsten Sonntagsfrühe bei meiner lieben kleinen Professorin zu frühstücken! Liebchen, klopft Dir nicht das Herz bei diesem Gedanken! Keine 70 Tage mehr und Du bist meine kleine herzige Frau! Wie das süße Wort klingt! Inzwischen übe Dich noch recht brav im Zeichnen, damit Du in Salzburg nicht hinter Deinem Professor zurückbleibst. Vor Allem nimm Dir Köpfe vor. Das Schattiren laß vorläufig noch. Fange mit den von mir gezeichneten an. Über das andauernde Regenwetter dieser letzten Woche habe ich mich lebhaft gefreut, und wünsche, es führt so fort, damit ein recht wonniger Herbst folge! Mit der Wohnung hoffe ich noch vor Johanni ins Reine zu kommen. Bis jetzt sind die Aussichten noch nicht weiter. Ich bin ja aber ein solcher Glückspilz, daß es mir gewiß auch diesmal nicht fehlen wird. Meine Collegia habe ich vorigen Montag (16.) wieder begonnen, und zwar als Professor natürlich mit ganz besonderer Würde. Nächste Woche komme ich schon an den Schädel. Gestern Abend war ich bei Seebecks, die Dich herzlichst grüßen lassen. Wir haben schon Allerlei Häusliches besprochen. Soll ich denn auch ein „Mädchen vor Alles“ miethen? Morgen (Samstag 21, am längsten Tage) werde ich durch den Prorector, Kuno Fischer, feierlichst als Facultätsmitglied in den Senat eingeführt. Schreib mir recht bald, liebster Schatz? Badest Du denn auch ordentlich Dein liebes reizendes Cadaverchen? Es herzt und küßt Dich in Gedanken Dein glückseliger Professor. ||

II.

Nun muß ich Dir noch von dem Verlaufe der Pfingstwoche erzählen. Der Pfingstfreitag (8.6.) war sehr heiß, im Schatten um Mittag eine Gluth von 25°, so daß man an die heißesten Hundstage erinnert wurde. Den Vormittag besuchte ich Gegenbaur, der Besuch von Prof. Victor Carus aus Leipzig, und Bezold, der Besuch von Dr. J. Rosenthal aus Berlin bekommen hatte. Dann brachte ich den stud. med. Anton Dohrn aus Stettin in das Spital, der sehr gefährlich schon seit 5 Tagen an einer heftigen Unterleibsentzündung (Perityphlitis) erkrankt war. Ohne sich zu erkundigen, hatte er einen beliebigen jungen Arzt (Dr. Frankenhäuser) genommen, der ihn ganz falsch behandelt und elektrisirt hatte, weil er die Krankheit für Rheumatismus hielt. Sonntag früh war es nun schon so schlimm, daß ich ihn sofort in das Hospital bringen ließ, wo Professor Gerhard ihn jetzt, nachdem er noch 5 Tage später eine schwere Krise überstanden, glücklich wieder hergestellt hat. Die Mutter kam am Morgen des Pfingstmontag und ist noch immer hier.

Am Nachmittag des Pfingstsonntag machte ich einen kleinen Solo-Spaziergang nach Wenigen-Jena, wobei mich nur meine kleine Frau Professorin in Gedanken begleitete. Ich wartete Abends (und noch 2 Tage!) vergeblich auf einen Correcturbogen, der nach Leipzig gereist war, obgleich ich die Adresse schon Sonntag früh erhalten hatte. Dafür erfreute mich früh der erste Gratulationsbrief zur Professur, von Mutter aus Berlin. ||

Pfingstmontag begann mit einem sehr heftigen und starken Landregen, der den ganzen Tag ununterbrochen anhielt, und eine Excursion nach Ziegenrück und Weida vereitelte, die wir alle zusammen auf 3‒4 Tage hatten unternehmen wollen. Gegenbaur, Bezold, Carus und Rosenthal fuhren trotzdem nach b „der fröhlichen Wiederkunft“ (über Roda), kamen aber schon am Abend denselben Weg zurück, nachdem sie den ganzen Tag in der verschlossenen Kutsche gesessen hatten. Viel Vergnügen!

Dienstag (10.6.) machten wir Nachmittags Alle zusammen einen hübschen Spaziergang nach Dornburg; prächtige Abendbeleuchtung. Hin- und Rückweg durch die Wiesen. Abends fand ich Briefe von Vater und Carl aus Freienwalde.

Mittwoch (11.6) besorgte ich früh den endlich angelangten 49sten Correcturbogen. Nachmittag 4 Uhr fuhr ich mit Bezold und Rosenthal in 5 Stunden nach Rudolstadt. Wir bekamen auf der Post einen ganz offenen Beiwagen, der die Fahrt sehr vergnüglich machte. Schönstes Wetter.

Donnerstag war der schönste Tag unserer Pfingst-Excursion. Wir hatten den ganzen Tag das herrlichste Wanderwetter, sonnig und zugleich kühl. Wir gingen zunächst durch das herrliche Schwarzathal nach Schwarzburg (Trippstein und Fasanerie), dann Nachmittags das obere Schwarzathal noch 3 Stunden weiter hinauf, über Sitzendorf, Mankenbach bis Mellenbach und Blumenau. Dieser obere Theil das Schwarzathals, der fast gar nicht besucht wird, ist überaus schön und ich halte ihn für einen der schönsten Theile des ganzen Thüringer Waldes. ||

Die Thalbildung ist außerordentlich manichfaltig, der Grund mit prächtigen Wiesen, die steilen Bergabhänge mit dunkeln Nadelwäldern bedeckt. Die Schwarza belebt die ganze Landschaft, und an der bequemen, schön angelegten Fahrstraße folgen Dörfer, Vorwerke, Mühlen, Hammerwerke etc im buntesten Wechsel. Ich schwelgte im Genusse, war aber noch glückseliger in dem Gedanken, hier das nächste Jahr mit meiner kleinen Frau Professorin zu wandern. Bei Blumenau verließen wir das Schwarzathal und stiegen durch den hübschen Allersgrund herauf auf die Hochebene, nach Herschdorf; c von dort bestiegen wir noch den 2500ꞌ hohen Burzelberg mit prächtiger Aussicht und subalpiner Vegetation, von dessend Höhe wir noch schönen Sonnenuntergang genießen. Dann stiegen wir steil nach dem nahen Amt Gehren hinunter, wo wir übernachteten.

Der starke Tagemarsch von etwa 7 Meilen hatte Bezold und mich sehr erfrischt, den Berliner Rosenthal dagegen in solchem Grade caput gemacht, daß er die beiden folgenden Tage nur sehr widerwillig mit marschirte und feierlichst schwor, nie wieder mit uns Beiden eine Fußtour zu machen. Da er sehr langsam ging, waren Bezold und ich fast immer allein voraus. Wir störten uns beide gegenseitig sehr wenig im Naturgenuß, indem er an seine Experimente mit Kaninchen und Fröschen dachte, während ich mich ausschließlich mit dem Gedanken an ein andres Experiment beschäftigte, nämlich ein kleines wildes Thierchen zu zähmen, das nächstens in meine ganze Gewalt kömmt, und dessen blaue Augen, blonde Haare und rothe Lippen, besonders aber das liebe muntere frische Herz mich gänzlich um meine kühle Ruhe gebracht haben. ||

Freitag 13.6. früh, fuhren wir, da es anfangs sehr zweifelhaftes Wetter war, von Amt Gehren nach Ilmenau, gingen dann nach Elgersburg und über die Körmbachsmühle nach der Schmücke. Hinter Arlesberg verirrten wir uns und geriethen, statt nach Gehlberg, in den Jüchnitz-Grund, ein sehr wildes, einsames Thal, mit höchst romantischen, einsamen Charakter. Mir war der Umweg ganz Recht. So kamen wir erst Mittag 1 Uhr auf die Schmücke, die höchste Wohnung des Thüringer Waldes (2850) ein einsames Wirthshaus, das aber sehr comfortabel eingerichtet ist. Inzwischen hatte sich das Wetter aufgehellt und wir genossen Nachmittags von der Spitze des Schneekopfs, des höchsten Gipfels des Thüringer Waldes (3050ꞌ) eine sehr klare Aussicht. Man übersieht hier vortrefflich alle Höhenzüge des Thüringer Waldes und die angrenzenden Ebenen. Doch ist die Aussicht immerhin mehr interessant als eigentlich schön zu nennen, indem die Höhenzüge, welche in Schichten über einander liegen, zu wenig Abwechslung darbieten. Alle sind sehr langgestreckt, mit wenig charakteristischer und wenig schöner Form, alle mit dunkeln Nadelwäldern in der ganzen Ausdehnung bedeckt und sehr einförmig-melancholisch. Mit irgend einer Alpenaussicht können sich diese Fernsichten von den Gipfeln unserer norddeutschen Mittelgebirge überhaupt nie vergleichen; ihr Reiz liegt vielmehr in den lieblichen Thalansichten und dem Wechsel der mannichfaltigen Partieen, denen man in dem Verlaufe der bachdurchströmten Waldthäler begegnet. Das Schwarza Thal dürfte unter Allen dieser doch das schönste bleiben. ||

III.

Nachdem wir auf der Höhe des Aussichtsthurmes, der auf dem Gipfel des Schneekopfs errichtet ist, trotz des starken Windes, bei schöner Beleuchtung, sehr klarer Fernsicht und besonders prächtigem Wolkenzuge, fast ½ Stunde verweilt, kehrten wir nach der nur ½ Stunde entfernten Schmücke zurück. In dem feuchten Moose des kalten Waldbodens blühte allenthalben ein reizendes kleines Alpenpflänzchen, Trientalis europaea, die einzige Blume unserer Flora, die 7 Blumenblätter und 7 Staubfäden hat. Auch am nächsten Tage fanden wir dieses niedliche weiße Dreifaltigkeitsblümchen noch in großer Menge im Dietharzer Grunde. Wir gingen Freitag Abend noch bei schönstem Wetter 2 Stunden weit auf dem Rennsteige bis nach Oberhof, dem höchsten Dorfe des Thüringer Waldes (2550ꞌ). Hier übernachteten wir in einem ganz vortrefflichen Gasthofe, wo wir von einem Muster einer alten Wirthin ganz trefflich verpflegt wurden, was besonders dem abgelaufenen und jammernden Rosenthal sehr gut that. Er freute sich sehr, daß es am andern Morgen Sonnabend (14.6). regnete, um mit der Post um 10 Uhr nach Gotha zu können. Indessen hellte es sich grade, als wir in die Post steigen wollten, e wieder auf und wir machten nun noch bei sehr schönem Wetter die Tour von 5 Stunden durch den Dietharzer Grund nach Tambach. Die schönste Parthie desselben ist der Falkenstein, eine große Felsmasse, die in einem sehr einsamen, rings bewaldeten Thalgrunde grade über einem kleinen, dunkeln See aufsteigt, sehr einsam und melancholisch. || Um 3 Uhr in Tambach angelangt, nahmen wir, da Rosenthal absolut nicht mehr gehen wollte, einen Wagen, der uns in 3 Stunden über Friedrichsroda und Schloß Reinhardsbrunn nach Waltershausen brachte. In Reinhardsbrunn verweilten wir fast 1 Stunde und wanderten in dem überaus reizenden Park des Herzogs Ernst von Coburg-Gotha umher, dem geschmackvollsten und anmuthigsten, den ich in Deutschland noch gesehen. Reizendes Schloß, üppige Wiesen, blanke Teiche, rings der schönste Hintergrund von bewaldeten Bergen, prächtige Baumpartieen, kleine Wasserfälle, Lauben etc. Es muß ein entzückender Aufenthalt für ein junges Professoren-Ehepaar sein! Ich schwelgte ganz in der holdesten Zukunft! Um 6 Uhr fuhren wir von Waltershausen mit der Pferde-Eisenbahn nach Fröttstädt (unweit Gotha) und von dort mit der Thüringer Bahn nach Apolda, wo wir Abend 8 Uhr anlangten. Da es herrliches Wetter war, ging ich mit Bezold (Rosenthal fuhr nach Berlin zurück) in 2 Stunden, im Eilmarsch, zu Fuß nach Jena, wo wir noch bis 12 Uhr bei Bernhard Schultze saßen und uns bei einem Glase Wein über unsere Fahrt unterhielten. Im Ganzen f konnten wir sehr zufrieden sein, zumal uns das Wetter über die Maaßen günstig gewesen war. Das reizendste war für mich freilich der Gedanke an die glückselige Zukunft, in der ich mit meiner kleinen süßen Frau das liebe Thüringen durchwandern würde, das uns hier in Jena doch reizend nahe liegt.

a gestr.: der; b gestr.: der; c gestr.: d; d korr. aus: der; e gestr.: nun; f gestr.: hatte

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
20.06.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38416
ID
38416