Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 2. Mai 1862

Jena 9.5.62.a

Heute bekommst Du doppelten Gruß und Dank, mein herziger Schatz, für die beiden liebenb Briefe, mit denen Du mir meine Jenenser Einsamkeit bereits versüßt hast. Ich würde Dir auch schon wieder geschrieben haben, wenn es nicht in dieser Woche so viel zu thun gegeben hätte, daß ich eigentlich gar nicht zur Besinnung kam. Nun, jetzt ist die erste ‒ immer zugleich die schwerste ‒ Woche des Semesters glücklich vorüber und ich werde nun bald wieder in den gewohnten Gang der regelmäßigen Tagesarbeit kommen. Freilich hätte ich gar Nichts dagegen, wenn es, statt die erste, die letzte Woche des Semesters wäre, da ich mich dies mal merkwürdiger Weise mehr auf den Herbst, als auf den Sommer freue. Meine sonstige enthusiastische Naturfreude kann c dies mal gar nicht recht aufkommen, trotzdem dieser Frühling hier so reizend ist, als er nur immer sein kann. Aber Etwas fehlt mir hier gar sehr, und je mehr ich in die grünen Bäume und auf die rothen Berge hinaussehe, desto mehr fühle ich, daß dies Etwas grade das Allerbeste und Aller-Nothwendigste ist, was ich haben muß; und daß ohne dies Etwas, (das Dir wohl bekannt ist??) mir alle Bäume und Berge Nichts helfen können. ||

Kurz, liebstes Herz, Du fehlst mir hier gar sehr, bei Allem und Jedem, und nur der Gedanke, daß ich jetzt mit raschen Schritten der seligsten Zukunft entgegen gehe, kann mich über die Unbehaglichkeit und Ungeduld des letzten Vierteljahres der Einsamkeit hinweg heben. ‒ Doch nun wirst Du wohl vor Allem wissen wollen, wie die erste Woche des neuen Semesters verflossen ist, halb über, halb unter der Erwartung.

In der Knochen- und Bänder-Lehre, die ich 3 mal wöchentlich von 11‒12 lese, habe ich über Erwarten viel, nämlich ein dutzend Zuhörer. Da diese Vorlesung, als Grundlage der ganzen Anatomie von großer Wichtigkeit ist, so freut mich dieser Erfolg sehr und ichd gebe mir alle mögliche Mühe, den Gegenstand so sorgfältig und genau, als möglich zu behandeln, obwohl er an sich nicht grade der interessanteste ist. Dabei unterstützt mich sehr die schöne anatomische Sammlung die mir Gegenbaur zur Disposition völlig unumschränkt gegeben hat. Da überdies das Colleg alle Semester gelesen werden muß, so hoffe ich mir mit diesem guten Anfang eine Grundlage für die ganze Dauer meines Hierseins gelegt zu haben. ||

Ein anderer Privatdocent (ein alter Preußischer Medicinalrath, Dr. Suckow) hatte ebenfalls Osteologie angekündigt, hat sie aber gar nicht zu Stande gebracht. Arbeit kostet mich die Vorbereitung zu dieser Vorlesung übrigens genug. Denn seit dem Cursus, wo ich zum letzten Mal Anatomie durchnahm ‒ besonders seit dem 3. Mai 1858 ‒ habe ich mich zwar sehr viel e und sehr gründlich mit gewissen anderen Theilen des menschlichen Körpers, besonders mit dem Studium der Augen und Lippen (!) befaßt, aber von den alten trocknen Knochen wieder sehr viel f vergessen. Mit dem anderen Privatcolleg (der mikroskopischen Anatomie oder Gewebelehre) ist es mir dagegen sehr schlecht ergangen, indem sich nur 2 Unternehmer meldeten, so daß ich es wohl gar nicht lesen werde. Der Eine von diesen ist der jüngere Dohrn, der jetzt hier anfängt Medicin zu studiren. Diesen lasse ich vielleicht privatissime bei mir mikroskopiren. Übrigens kam mir dieser schlechte Ausfall nicht unerwartet, da überhaupt nur wenige Mediciner speciell sich mit Gewebelehre abgeben und überdies bereits Gegenbaur vorigen Winter, Bezold letzten Sommer eine Cursus darüber gehalten haben. || Die öffentliche Vorlesung (1stündig wöchentlich über Entwicklungsgeschichte der wirbellosen Thiere) werde ich erst nächsten Mittwoch beginnen.

Mein Lebenslauf ist nun in die gewöhnliche Sommer-Ordnung wieder eingetreten. Früh um 4 oder 4½ Uhr stehe ich regelmäßig auf, arbeite bis 8 Uhr zu Haus, dann von 8 ‒ 11 auf der Anatomie wo mir Gegenbaur den prächtigen, großen, vergleichend anatomischen Hörsaal als Arbeitszimmer eingeräumt hat. 11 ‒ 12 Vorlesung, dann 12 ‒ 1 Zeitungen im Museum, welches jetzt sehr bequemer Weise in das Anatomie-Gebäude verlegt ist. 1 ‒ 2 Mittag im Bären, wo dann unsere alte Bären-Gesellschaft, die sich wieder in derselben Zusammensetzung constituirt hat, bis 3 Uhr beim Caffe zusammenbleibt. Von 4 ‒ 5 höre ich 4 mal wöchentlich die sehr interessante Vorlesung Kuno Fischer’s über die Kantische Philosophie, die mir so gefällt, daß ich sie vielleicht das ganze Semester hindurch hören werde. Unsere Turnstunde ist jetzt Dienstags und Freitags von 7 ‒ 8 Uhr. An den anderen Abenden mache ich gewöhnlich mit meinen Bären-Genossen einen längeren oder kürzeren Spaziergang, lese dann noch bis 10 Uhr und lege mich dann mit sehr lieben Änni-Gedanken ins Neste. ||

Wie viel mir schon täglich die August-Gedanken durch den Kopf gehen, brauche ich Dir wohl nicht erst zu sagen, liebster Schatz. Sehr peinlich ist es mir, daß die Ernennung, welche in den nächsten Monaten ganz bestimmt erfolgen muß, sich doch immer noch verzögert, so daß ich mich z. B. nicht nach einer Wohnung umsehe und überhaupt öffentlich noch nicht von meinen Herbstplänen reden darf. Unter der Hand habe ich mich allerdings dieser Tage einmal nach Wohnungen umgesehen, aber ohne Erfolg. Drei von den leer stehenden, mitten in der Stadt, wollten mir absolut nicht behagen. Eine andere, sehr reizende, in schönster Lage, auch trefflich gebaut, wird leider wohl zu klein sein. Sie hat folgende Räume: 2 mittelgroße 2fenstrige Stuben 1 einfenstrige Eckstube, halb unter schrägem Dach, 1 kleine Mädchenstube. [Skizze der Wohnung]

Es fehlt also Logirstube und vorläufig auch eine besondere Küche. Jammerschade, daß sie nicht etwas größer ist. || Die beiden 2fenstrigen Stuben sind etwa so groß, wie eure Balkonstube, mit der allerschönsten Aussicht. Das Häuschen liegt reizend ganz mitten im Grünen und ist von einem Berliner nach dortigem Muster gebaut, zeichnet sich also durch Solidität vor allen anderen Jenenser Wohnungen aus. Wenn nur eine Küche da wäre!! Im Nebenhause (jetzt Hühnerstall) etwa 10 Schritte entfernt, ließe sich vielleicht eine solche einrichten! Wäre Dir das Recht? Am Ende läßt sichs doch noch arrangiren! Eine der schönsten Wohnungen, für 110 rℓ, auch außerhalb der Stadt, am Paradies, hat kurz vor meiner Herkunft Gegenbaur für sich gemiethet; wir könnten also schlimmstenfalls in dessen Wohnung ziehen, die er nun schon 7 Jahre bewohnt; sie ist aber sehr alt und rappelig, im Winter sehr kalt, im Sommer sehr warm, Südseite, 70 rℓ, überflüssig viel Raum. Kriegen wir durchaus keine andere, so können wir es doch am Ende in der Ziegelei noch irgendwie einrichten. Vielleicht findet sich aber noch eine! ||

In dem Paket schicke ich Dir die Vorlageblätter, um Dich in Heringsdorf im Zeichnen zu üben, damit mein liebes kleines Herz mir in den Alpen recht helfen kann, Skizzen zu machen. Am besten ist es, Du fängst mit den einfachen Köpfen an, weil Du bei diesen selbst am besten die gemachten Fehler sehen wirst. Als allgemeine Regeln merke Dir noch folgendes: 1. Zirkel oder Papiermaaß gebrauche während des Zeichnens niemals, wohl aber nachher, um die Fehler zu controliren. 2. Lege immer erst mit sehr blassen Strichen die Zeichnung an und verstärke dann erst die Schattenseiten durch dunklere Striche. 3. Zeichne immer nur mit weichem Blei, am besten dem, von dem ich Dir einmal ein Bund gegeben habe: Rehbach in Regensburg N. 9 C g Weich. 4. Entwirf immer erst die großen Grundformen richtig, nachher das Detail, und erst wenn die Umrisse ganz richtig sind, fange an zu schattiren. Beim Schattiren legt man die Striche meist in dieser Richtung ////// und wenn es dunkler werden soll, andere in dieser Richtung darüber [sich kreuzende Striche]; ferner noch dunkler [sich mehrfach kreuzende Striche]; nicht aber so ###. ||

Wie jubelvoll ich dieser Tage über den unerhört glänzenden Sieg der Fortschrittsparthei gewesen bin, kannst Du Dir denken. Ich habe die Morgen- und Abend-Blätter bis ins kleinste Detail förmlich verschlugen. Ist denn nun der Alte nicht endlich auch so weit, sich darüber zu freuen? Aber die arme Tante Bertha!! ‒ Einliegenden Brief an Wagenschieber nebst den 4 Correctur-Tafeln bist du wohl so gut an den Kupferdrucker Schellenberg zu schicken, unter den Linden auf der Opernhausseite in dem Hause, wo Bote und Bock wohnen, ich glaube zwischen h Friedrichs- und Charlotten-Straße. Sonst kannst Du sie auch an Georg Reimer schicken.

Fast hätte ich i vergessen, Dir zu sagen, liebstes Herz, wie ich den dritten Mai gefeiert habe. Es war das herrlichste, tadelloseste Frühlingswetter (wie diese ganze Woche). Wir machten alle zusammen einen sehr hübschen Spaziergang auf die Kunitzburg wo es ganz reizend war. Wie hab ich Dich da sehnlichst hergewünscht, Du liebstes, bestes Herz! Und doch, wie sehr ich Dich auch jede Stunde entbehre, so überwiegt doch der glückselige Gedanke, daß wir in einem Vierteljahre ganz und für immer vereint sein werden, das glücklichste Paar, in der innigsten, treusten, reinsten Liebe!

Denk immer an den August, liebste Änni, wenn Dir trüb und bange werden will, und an Deine Dich über Alles liebenden treuen Erni.

j Schreib mir recht bald wieder einen so lieben, lieben Brief, wie den vom zweiten Mai.

k Beste Grüße an die Alten, Heinrich, Mutter etc und Dir noch einen besondern Kuß.

a korr. aus: 29.2.62.; b korr. aus: liefen; c gestr.: ich; d korr. aus: ist; e gestr.: mit; f gestr.: ge; g gestr.: Mittel; h gestr.: Französ; i gestr.: Dir; j weiter am Rand v. S. 8: Schreib mir recht…vom zweiten Mai,; k weiter am Rand v. S. 1: Beste Grüße an…einen besonderen Kuß.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.05.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38410
ID
38410