Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Freienwalde, 1. September 1860

Freienwalde 1.9.60.

Samstag Abend.

Das war heut ein schöner Schluß der fleißigen Woche, mein liebster Schatz, als ich gleichzeitig Deine beiden liebena Briefe erhielt, die diesmal sehr rasch gegangen sind; eine prächtige, aber auch wohlverdiente Belohnung nach der tüchtigen Arbeit der letzten Woche. Zugleich fangen sie auf die würdige Weise meinen Lieblingsmonat, den September an, welcher sich mit dem Mai um diese Ehre streitet. So sehr aber auch der 3. Mai als der schönste Tag meines Lebens alle andern in den Hintergrund drängt, so ist er ja doch erst bedingt durch den 14 September, an dem das wunderbare kleine Seelchen auf die Erde herunter kam, was mir jenen Mei erst werth macht, u. was mich seitdem so beherrscht u. erfüllt, daß dagegen alle andern Strebungen zurücktreten. Aber auch aus einem andern Grunde lebe ich den September immer besonders gern in der Erinnerung wieder durch. Es ist der eigentliche Reise-Monat und seit frühester Jugend sind alle meine lieben Reisebilder mit dieser schönsten Zeit des Spätsommers u. Herbstes verwebt. Den September 54 verlebte ich mit Müller in Helgoland, wo ich zum erstenmal in seiner vollsten Schönheit das „göttliche“ Meer kennen lernte, die erste, wilde, brausende, hochwogende Nordsee; || auch entschloß sich da zum ersten male meinen erstaunten Augen die Wunderbare Thierwelt des Meeres, welche an Reichthum der schönsten und mannichfaltigsten Formen, wie an Complication ihres Baues und ihrer höchst verwickelten und merkwürdigen socialen und familiaeren Verhältnisse alle lebendigen Wesen des Festlandes bei weiten übertrifft. Da wurde zuerst durch Müller, das Meer und seine Wunder mein Geist aus den bisherigen Schranken befreit und schlug die Richtung ein, in der ich nun mein ganzes Leben fortforschen werde. Im folgenden Herbst lernte ich dagegen das Schönste und Großartigste kennen, was das Festland besitzt, die wunderbare Alpenwelt, die Gletscher und Schneefelder, von denen ich so viel gelesen u. gehört, und die nun doch, als ich sie selbst sah, fühlte, durchwanderte, alle Bilder u. Beschreibungen weit hinter sich zurückließen – dann die alpine Flora, welche mit ihrer reizenden Zwerggestalten, den blauen Gentianen u. weißen Saxifragen, der rothen Alpenrosen und grünen Moosen, das heiße Ziel meiner Sehnsucht b während der ganzen botanischen Knabenjahre gewesen war, und die auch jetzt c noch über allen Erzeugnissen der reichen südlichen Pflanzenwelt, über den Palmen und Agaven, Pinien und Cistusrosen oben ansteht und ihren alten Vorrang behauptet. || Grade in den September 55 fällt der schönste Theil meiner Alpenwanderung, die ich in 9 Monaten von Linz bis zum Wormser Joch und von Chiavenna bis zum Achensee zu Fuß, allein, mein eigner Herr, in der köstlichsten Freiheit, ausführte. Im September wanderte ich durch ganz Tyrol und Oberitalien, überstand in der Gletscherspalte des Ötzthaler Hochjochferners glücklich den gefahrvollsten Moment meines Lebens, lernte in Mailand, Verona, Venedig eine neue Welt kennen, und sah schließlich am Ortler auf dem Wormser Joch die herrliche Alpenwelt in ihrer größten Pracht und Majestät. Da drohten die marinen Helgoländer Eindrücke hinter diesen mächtigen Alpenbildern zu verbleichen; aber der folgende September (56) verhalf diesen wieder zu ihrem Recht; da war ich mit Mueller und Koelliker in Nizza und lernte zuerst die noch ungleich reichere und wunderbarere Fauna des Mittelmeers kennen, die mich im vorigen Winter so reich beschenkt hat. Auch bezauberte mich da zuerst mit voller Gewalt die Farbengluth des südlichen Himmels, in der ich im vorigen Jahre in so reichem Maaße schwelgen konnte. Nur der folgende September (57) ist ausgenommen aus dieser schönen Reihe, da ich da die Vorbereitungen zu dem bösen Staatsexamen (mit allen seinen verderblichen Folgen!!) treffen mußte. Dafür war der vorhergehende Sommer in Wien (mit Focke, Krabbe, Kowan) um so schöner. ||

Wie schön der September 58 war, weißt Du am besten, mein liebster Herzensschatz! In den September 59 fällt der beste Theil der Sicilischen Reise, die herrlichen Tage in Palermo u. Girgenti.

Und wie herrlich wird nun erst der September dieses Jahres werden, auf dessen letzte Hälfte ich mich ganz außerordentlich freue. Vielleicht bringt mir auch der Besuch der Naturforscherversammlung mancherlei wichtige u. interessante Bereicherung meiner Kenntnisse u. Anschauungen; jedenfalls eine Anzahl neuer angenehmer Bekanntschaften. Wie Zenker mir schreibt, haben sich auch eine Anzahl Schweden und Norweger dazu angemeldet. Ferner ist es mir sehr interessant, gegenüber den südlichen Erfahrungen des vorigen Jahres nun auch den äußersten Norden Deutschlands kennen zu lernen. Königsberg selbst, Marienburg u. Danzig sollen sehr eigenthümliche Städte sein. Und doch fliegen die Gedanken immer über die Erwartungen dieser Reise zu dem hinweg, was nach ihr kommen soll. Du glaubst nicht, wie ich mich auf die letzten 10 Tage des Septembers in Heringsdorf freue! Die sollen doch noch anders werden, als die von 1858! Wenn ich Abends im Schummerstündchen die müden Augen von den Radiolarien wegwende, dann fliegen sie gleich in den lieben Saal von „Wald und See“, wo vor dem lustig flackernden Kaminfeuerchen im seligsten Liebesglück ein deutscher Bursch und ein deutsches Mädchen beisammen sitzen, und die ganze Welt über ihrem Glück vergessen!

[Briefschluss fehlt]

a korr. aus: liefen; b gestr.: ,; c gestr.: nur

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
01.09.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38321
ID
38321