Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 26. Juni 1860

Berlin. 26.6.60.

Dienstag Nachmittag

Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief, mein bester Schatz, den ich gestern Abend bei meiner Ankunft empfing. Leider sehe ich daraus, daß Du doch wieder ein paar schlimme Tage gehabt hast, an denen Du Deinen Doctor gewiß recht gut zur Pflege hättest brauchen können. Nun hoffentlich werden dergleichen unangenehme Unterbrechungen immer seltner; Du läßt hoffentlich alle Schwäche in Ems zurück und kehrst als meine ganz frische, gesunde Änni wieder heim.

In dieser Hoffnung will ich mir auch allenfalls die Abkürzung unserer schönen Tage in Freienwalde gefallen lassen, obgleich ich mich schon sehr danach sehne, wie ich denn überhaupt gar gerne die Zeit bis zum Wiedersehen überspränge. Findet aber Hr. Dr. v. Ibell, daß Dir das Bad gut thut, und hält er eine Fortsetzung der Badecur für nothwendig, so folge ihm nur ordentlich.

Ich war heut früh bei Quincke, welcher ganz damit einverstanden ist. Er scheint großes Vertrauen zu Ibell zu haben und läßt Dir sagen, daß Du Dich ja genau allen Anordnungen desselben fügen mögest. Ich stimme ihm gleichfalls aus dem Grunde bei, weil ich Dich lieber jetzt ein paar Wochen länger entbehren, als vielleicht später längere Zeit krank haben will. Man muß ja immer von 2 Übeln das kleinere wählen. Wenn Dir also die Verlängerung der Badecur und der Trennung etwas schwer werden sollte, so denke daran, daß es das Beste für unsere eigne Zukunft ist. Vielleicht ist es uns Beiden nicht unnütz, wenn wir dadurch aufs Neue entbehren und unsere allzu heißen Wünsche etwas bändigen und zurückhalten lernen. Liegt doch auch das süße Ziel all unseres Strebens noch in unbestimmter Form vor uns! ||

Meine Freunde haben mich in unserm lieben Jena so lange zurück gehalten, daß ich erst gestern (Montag) früh 8 Uhr abfuhr. Um 1 Uhr war ich in Halle, wo ich Bücher antiquarisch einkaufte und Hetzer besuchte, welcher nebst Finsterbusch im Herbst eine Stelle an der Realschule in Hagen (jeder mit 700₰ Gehalt) erhält. Um 6 Uhr fuhr ich von Halle ab und war um 10 Uhr schon auf meiner alten Stube, die mich nach Jena gar nicht anheimelte, sondern recht öde, nüchtern und kahl vorkam. Fehlt ja doch die liebe Seele darin, da ihr allein Reiz zu verleihen vermag. Überhaupt ist mir jetzt das ganze Berlin, wenn Du nicht da bist, zuwider und nicht einmal über die Feuerchen konnte ich mich gestern Abend freuen. Sie brannten aber auch so trübe und spärlich, als ob sie wüßten, daß die süße Seele, die am meisten Freude an ihnen hat, weit, weit fort sei. Mir wurde bei ihrem Anblick so weh ums Herz, daß ich mich weitwegwünschte und mich kaum über die Rückkehr ins Elternhaus freuen konnte. Und doch waren die guten Alten so lieb und herzlich, daß ich ihnen im Stillen die unnützen Gedanken recht abbitten mußte. Aber Du bist und bleibst nun einmal das Liebste und Beste, ja das Einzige, was mich an diese Menschenwelt fesselt, und hätte ich Dich nicht, so würde ich auf einmal der tragischen Comödie dieses traurigen Lebens ein jähes Ende bereiten und der trügerischen Erdensonne den Rücken zuwenden. Ach, liebster Schatz, nur in Dir und mit Dir und durch Dich kann ich noch hoffen glücklich zu werden; so allein für mich komme ich mir so dürr, hohl und nüchtern vor, daß mir vor mir selbst graut und ich meinem eignen Schatten entfliehen möchte. || Doch ich will ja nicht klagen, wie weh und weich mir auch ums Herz ist. Ich verzweifle nun aber fast daran, daß das dumme Ding überhaupt jemals hart werden wird; wenigstens habe ich bis jetzt immer nur das Gegentheil von meinen Härtungsversuchen erlebt. Erst jetzt wieder, wo ich auf der Wartburg ein paar sehr hübsche Fresken mit der Geschichte des hartgeschmiedeten Landgrafen (von M. Schwindt) sah, nahm ich mirs recht ernstlich wieder vor, das weiche Herz zu härten und rief ihm vielmals täglich zu: „Herz, werde hart!“ Aber es wurde nicht hart und die warme Sonne von Jena schmolz mit ihrem Farbenglanz und ihrer Sommerwärme vollends die schwachen Eisspuren, die etwa hie und da am Rande sich verdichtet hatten. Du glaubst nicht, wie ich Dich in unserm lieben Jena zu mir sehnte und wie alles Schöne und Liebe, was ich dort sah und erfuhr, mir nur durch den Gedanken werth wurde, daß ich es künftig einmal mit Dir theilen könnte. Ich war so gedankenabwesend und zerstreut, daß ich von Gegenbaur und Bezold vielfach geneckt wurde. Sie lassen Dich übrigens beide schön grüßen und hoffen, Dich bald dort zu sehen. Überhaupt war so viel von Dir die Rede und die Felsen, Bäume und Wiesen des lieben Saalethals haben so oft und viel den Ruf „Änni, meine Änni“, gehört, daß Dir nothwendig die Ohren geklungen haben müssen. Das Wesentliche unserer Berathungsresultate habe ich Dir schon im a vorigen Briefe mitgetheilt, nämlich daß meine dortigen Freunde wünschen, daß ich mich möglichst bald dort habilitire. Insbesondere dringt Gegenbaur in mich, mich schon zum Herbst zu habilitiren. || Zum Theil liegt es schon in Gegenbaurs Interesse, da er so mit Vorlesungen und Geschäften überladen ist, daß das zoologische Colleg nur eine lästige Zugabe für ihn ist. Auch sonst liegen alle Verhältnisse jetzt grade im höchsten Grade günstig, so daß auch Quincke, mit dem ich heut früh darüber sprach, und auf dessen nüchternes Urtheil ich bei solchen Überlegungen viel gebe, da er nicht zu sehr sich sanguinischen Hoffnungen hingiebt, mit dringend rieth, schon im Herbst (November) zu lesen anzufangen. Das einzige Hinderniß ist mein Radiolarienwerk, welches aber schließlich doch den Ausschlag wahrscheinlich geben wird. Dies möchte ich vor allen Dingen ganz vollenden, ehe ich alle meine Zeit auf die Vorlesung concentrire. Daran ist aber in dem kurzen Zeitraum der nächsten 4 Monate, in den noch dazu eine Anzahl störender Unterbrechungen fallen, nicht zu denken.

Allein die Ausführung der 30 Tafeln wird wenigstens 2 Monate kosten. Das Werk aber unvollendet liegen b zu lassen, wäre mir sehr unlieb, da ich esc jedenfalls noch ½ Jahr oder noch länger, nicht mir der ursprünglichen Lust, Liebe und Frische wieder aufnehmen würde. Vorläufig werde ich nun die nächsten Monate in Freienwalde mit möglichster Energie arbeiten und einmal das alte Feuer und den alten zoologischen Enthusiasmus (den ein gewisses Strickchen ganz eingeschläfert hatte) wieder wach zu rufen suchen und dann werde ich ja sehen, wie weit ich komme. Du kannst Dir aber denken, wie mir die Geschichte im Kopfe herumgeht und wie mich die verschiedenen Interessen nach allen Seiten auseinanderziehen. Diesmal ist der günstige Moment wirklich zu früh da und ich gäbe was darum, wenn ich ½ Jahr dazwischen ausschließlich meinen Radiolarien opfern könnte. ||

Wie lieblich mich das herrliche Thüringen, und in specie unser reizendes Jena, in seinem frischen, grünen Frühlingsschmucke angelacht hat, habe ich Dir schon neulich geschrieben. Besonders war das Grün der Bäume über alle Maaßen herrlich und so üppig, wie es lange nicht dagewesen sein soll. Das wunderschöne Saalthal hat mich über allen Ausdruck erfreut und erquickt und wenn ich dabei die Trennung von Dir doppelt empfand, so erfreute mich um so mehr die Hoffnung, es künftig mit Dir gemeinsam zu genießen. Ach, lieber Schatz, Du kannst Dir kaum denken, wie sehnsüchtig ich Dich da allenthalben herbeiwünschte und wie selig mich der Gedanke machte, hier wirklich einmal unsere süßesten Hoffnungen erfüllt zu sehen. Einige Goethesche Lieder, die ja z. Theil in diesem Thal entstanden sind, wollen mir gar nicht aus dem Sinn und besonders der Vers: „Hier ist mir das Thal gefunden, wo wir einst zusammengehn, und der Strom in Abendstunden still hinuntergleiten sehn, – diese Blumen auf den Wiesen, diese Pappeln in dem Hain, – ach, und hinter allem diesen wird ja unser Hüttchen sein!“ – Und dann jauchzte ich und jubelte, daß das Echo von allen Thalwänden den holden Namen „Änni!“ zurücktönte und daß Dich die Wiesen und Bäume schon jetzt lieb haben müssen. Dazu sind die Menschen dort so lieb und nett, daß man ordentlich Lust bekömmt, mit ihnen zusammen zu leben und besonders würde ich an Bezold und Gegenbaur die besten Freunde haben. Auch ist Gegenbaur ein so fester, energischer, männlicher Character, daß d grade sein Einfluß meinem mädchenhaft weichen und oft ganz in Gefühl und Traum zerfließendem Sinn die rechten Fesseln und Schranken anlegen würde. || Wenn ich die Habilitation aufschiebe, ist besonders zu fürchten, daß mir Gegenbaurs eigner Assistent, ein Dr. Asverus aus Jena, darin zuvorkömmt. Nun ist das zwar ein ziemlich wenig bedeutender Mann dessen Concurrenz ich nach Gegenbaurs eigner Äußerung wohl aushalten könnte; immerhin wär das aber doch sehr unangenehm und könnte mich schließlich doch hindern. Ferner wünscht auch Gegenbaur und hält es für das Beste, daß die Zoologie im Winter, und nicht im Sommer, gelesen wird. Seebeck ist auch dafür, daß ich im Winter komme und so werde ich wohl noch lange hierüber schwanken, ehe ich mich zu Gunsten der Radiolarien gegen Jena entscheide. Wer weiß, wie das Schicksal schließlich den Würfel fallen läßt? Wenn nur einmal endlich Entscheidung da wäre, daß das unruhige Herz zum Frieden käme! „O kleine Stadt am Berge du, voll Fleiß und geistigem Streben, schenk zweier Herzen endlich Ruh, die getrennt nicht können leben.“! –

Ich muß schließen, liebster Schatz, da Helene mir hat sagen lassen, ich müßte den Brief bis 6 Uhr hinbesorgen. Heut früh konnt ich nicht schreiben, da ich auf der Bibliothek zu thun hatte. Das Nächste mal Nähers über Jena und Coburg. d Halt Dich munter und wohl, liebster Schatz und schreib mir bald wieder einen so netten Brief! Daß ich in Coburg nicht zum Schreiben kam, hast Du Dir wohl inzwischen selbst schon entschuldigend denken können. – Grüß Mutter. Die Alten lassen Dich auch schön grüßen. Innigsten Kuß von Deinem treuen Erni.

e Mutter läßt fragen, ob sie aus Teplitz noch mehr leinene Kanten für das Bettzeug mitbringen solle.

a gestr.: Vorin; b gestr.: la; c eingef.: es; d gestr.: Das; e weiter am Rand v. S. 2: Mutter läßt fragen… Bettzeug mitbringen solle.

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
26.06.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38307
ID
38307