Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Rom, 28. Februar 1. März 1859

Rom. 28.2.59.

Schon eine Woche bin ich nun in Rom und noch immer bin ich nicht dazu gekommen, Dir die ersten Eindrücke zu schildern, mein herziger Schatz, die die ewige Weltstadt auf mich gemacht hat. Du kannst aus diesem Schweigen selbst schon entnehmen, wie mächtig sie gewesen sind. Erst jetzt komme ich allmählich dazu, oder vielmehr, kann erst anfangen, diese so verschiedenartigen, großen und wunderbaren Bilder einigermaßen zu ordnen, zu beherrschen und zu assimiliren. Der erste Eindruck war nicht so, wie ich erwartet hatte; ich hatte mir Rom im Ganzen antiker, auch von seiner Außenseite schönera und in mancher Beziehung größer gedacht. Aber mit jedem Tage lerne ich, fühle ich mehr, wie groß und antik die erhabene Stadt trotz allen modernen Entstellungen und Verschlechterungen dennoch immer bleibt und welch eine unerschöpfliche Fundgrube der edelsten Kunstgenüsse aller Art hier verborgen liegt. In den ersten Tagen sieht man hier so viel Neues, Großes, Merkwürdiges aus jedem Gebiete der bildenden Kunst, soviel geschichtliche Reminiscenzen aller Art aus den verschiedensten Zeitaltern, daß man sich im Anfang von ihrer Extensitaet wahrhaft überwältigt fühlt, erst allmählich eine nach der andern b sich aneignen und nutzen kann. Die Masse des Großartigen und Schönen, die hier überall den Fremden überrascht, ist so überwältigend, daß ich vorläufig ganz darauf verzichten muß, euch auch nur eine skizzenhafte Schilderung alles Einzelnen zu geben. Vielleicht kann ich es später nachholen. Vorläufig kann ich euch nur von dem allgemeinen Eindruck schreiben und werde kurz immer wenigstens eine Übersicht oder Aufzählung alles dessen beifügen, was ich an den einzelnen Tagen gesehen. Was mich vor Allem entzückt hat, ist das klassische Alterthum, welches hier großartiger, vollständiger und klarer zu Tage liegt als irgendwo sonst. Besonders sind es meine Lieblinge, die Griechen, welche ich hier durch ihre wundervollen, zahlreichen Meisterwerke der bildenden Kunst (denn auch alle schönen Römischen Kunstwerke waren ja nur Nachbildungen der Griechen) in ihrer ganzen Größe, Schönheit und Naturwahrheit begreifen und erfassen lerne, und wenn es möglich wäre, noch mehr lieben, als vorher. Die wirklichen Wälder der herrlichsten Marmorstatuen, die man hier überall gesäet findet, haben mich in einen wahren Taumel des Entzückens versetzt, bei dem weiter Nichts fehlte zur Seligkeit, als daß Du, liebster Schatz, sie mitgenossen hättest. Auch die Reste der colossalen römischen Bauten, die Tempel, Paläste, Triumphbogen, Säulen etc auf dem Forum, sind überaus großartig und wirklich wunderbar gewaltig. Natürlich tragen die zahllosen interessanten historischen und mythischen Remininiscenzen nicht wenig dazu bei, allem diesem erhöhtes Interesse und neuen Reiz zu geben. ||

Während mich diese antike Seite Roms, das griechisch-römische Alterthum, im höchsten Grade entzückt und mehr angeregt und überwältigt hat, als ich je gedacht hatte, so hat mich dagegen eine andere, nicht minder reiche Seite Roms, das Mittelalter mit seinen massenhaften Kunstschöpfungen, namentlich aus der Malerei und Baukunst, was die meisten Leute hier mehr, als das Alterthum anzusprechen und zu beschäftigen pflegt, relativ kalt gelassen. Alle diese ungeheuren Mengen von Bildern aus der christlichen Mythologie, denen man hier überall in Haufen begegnet, diese 10000 Madonnen und 100.000 verschiedenen Heiligen mit ihren Wunder- und Martyrer- Geschichten, sind mir in toto sehr gleichgültig geblieben. Ich weiß nicht, worin es liegt, und muß mir der Gründe erst noch klar bewußt werden, aber factisch ist es, daß die Sculptur hier mein ganzes Interesse in ungleich höherm Grade fesselt als die Malerei. Schon in Florenz war mir dies klar geworden. Zum Theil mag meine rein naturalistische Richtung daran Schuld sein, zum Theil der Widerwille, der jeden aufrichtigen natürlichen Menschen, wenigstens jeden ehrlichen Naturforscher, hier gegen alles das erfüllen muß, was die Leute hier Christenthum zu nennen wagen. Es ist schmählich, den Blendwerken tollsten Aberglaubens, pfäffischen Despotismus, knechtischen Gewissenzwangs den Namen einer Religion beizulegen, die in ihren idealen Fundamenten so rein und edel, so natürlich und echt menschlich ist wie die christliche, welche, meiner Ansicht nach, nach Abzug alles dogmatischen Unsinns, mit dem Humanismus oder dem ursprünglichen Buddhismus, oder jeder andernc wahren Naturreligion zusammenfällt. Gewiß muß der Aufenthalt in Rom jeden aufrichtigen Naturmenschen von gesundem Verstande eher zum Heiden als zum Christen machen, und wenn ich nicht schon durch die ins Feinste und Tiefste der Natur eindringenden Studien der letzten Jahre dem sogenannten Christenthum der Theologen ganz entfremdet wäre, hier in Rom wäre ich sicher zum Heiden geworden. Wer kann da in der Wahl noch zweifelhaft sein − auf der einen Seite dieses edle, reine, klassische Alterthum der Hellenen mit seinem wahren Naturalismus und schönen Humanismus, mit dem Streben nach Erkenntniß, Wahrheit und Vollkommenheit − auf der andern eine systematisch ausgebildete Hierarchie, die Alles aufbietet, um unter dem Titel von Religion die Menschen in niedrigster Unwissenheit und schmählichstem Aberglauben, in knechtischer Geistesherrschaft und unfreiem Gewissenszwang zu erhalten, der kein Mittel zu schlecht ist, um ihrem sogenannten heiligen Zweck zu dienen, und die in ihrem ganzen System ebenso verwerflich, als in dessen Anwendung widerwärtig ist. ||

Nirgends kann man wohl den Vergleich zwischen dem heidnischen Alterthum und dem christlichen Mittelalter so umfassend, allseitig und unmittelbar anstellen, wie hier in Rom, und nirgends wird er gewiß so zum Vortheil des erstern ausfallen wie hier. Man sehe nur die herrlichen Werke der bildenden Kunst, mit denen die alten Griechen und ihre Nachahmer, die Römer der Kaiserzeit, diese Wunderstadt geschmückt haben, diese schönsten Erzeugnisse edelster menschlicher Kunst − und dann sehe man, wie die Päpste mit den Schaaren der christlichen Barbaren alles angewandt haben, um diese Heiligthümer zu schänden, ihre Schönheit zu vernichten, ihre Poesie zu zerstören. Und was haben sie an ihre Stelle gesetzt? Rohe, unschöne Machwerke und verschnörkelten Zopf. An Stelle der wunderschönen Sagen des klassischen hellenischen und römischen Alterthums, in denen überall Maaß, Schönheit, Größe, Erhabenheit wie aus einem vollendeten Marmorbild uns entgegentreten, eine unschöne Mythologie voll häßlicher Zerrbilder, eine Sammlung voll exclusiver − katholischer − Dogmen, die ebenso anmaßend und ausschließend, als unwahr und unmöglich sind. Sind nicht die Götter und Heroen der Griechen, wie wir sie aus dem Homer kennen, 1000mal edler, schöner, besser, wahrer, als alle die Heiligen des christlichen Kalenders? Ich für meinen Theil ziehe die ersteren ebenso vor, als mir eine einzige vollendete Statue des Apollo oder der Athene, wie man sie hier dutzendweis findet, 1000mal lieber ist, als das zehnfache Contingent von Madonnen, von gemarterten Heiligen, etc. Oder, wenn man nicht überzeugt ist, vergleiche man nur dies jetzige römische Volk mit seinen Vorfahren. Können sie es noch wagen, sich neben letztere zu stellen? Solches physiche und moralische Elend, solche Verkommenheit, solcher Mangel an Kenntnissen, Bildung, Humanität haben die alten Römer und Griechen kaum in ihrer rohesten Zeit gehabt. Wahrlich, wenn jemand wieder über unser Deutschland und seine Bewohner schimpft, soll man ihn nach Italien schicken; er wird sich schon in den ersten 14 Tagen nach Deutschland, wie nach einem Elysium, zurücksehnen. Von dieser moralischen Versunkenheit, dieser Sittenverderbniß, diesem gänzlichen Mangel an Ehrlichkeit und Rechtgefühl, wie er hier herrscht, hat man bei uns gewiß keine Idee. Man muß selbst kommen und sehen! || Und wenn ich von dieser Reise schon weiter Nichts hätte, als bloß diesen Aufenthalt in Rom, einerseits diesen entzückenden Einblick in die herrliche Wunderwelt des klassischen Alterthums, andererseits diese abschreckende Bekanntschaft mit der verzerrten Barbarei des christlichen Mittelalters, und dann diese höchst elende und bedauernswerte, ebenso abschreckende als entartete Gegenwart − wenn diese Erfahrungen allein die Frucht meiner Reise wären, so würde ich mich dadurch schon hinlänglich belohnt finden. Denn nie hat d der ernste Wille, stets nur nach allem Guten, Wahren und Schönen zu streben, so tief und fest in meinem ganzen Wesen Wurzel gefaßt als hier; nie habe ich so tief ergriffen von der Bestimmung mich gefühlt, dem Ideale edler Menschlichkeit nachzustreben als hier. In diesem Sumpfe verthierter Menschheit, wo Unsittlichkeit und Verdorbenheit in 1000facher Gestalt stündlich einem gegenüber tritt, hier erst lernt der Deutsche sich selbst schätzen, und das Leben schätzen, das er zu dem Zwecke verwenden und ausbauen kann, um diesem Elend entgegenzuwirken, um Wahrheit, Bildung und Menschlichkeit zu verbreiten. Und keiner kann dies wohl mehr als der Naturforscher. Wenn die Naturwissenschaften hier erst einmal sich Bahn brechen, wie werden sie da die Tenne fegen! Schon bloß der Anblick der Faullenzerei und Trägheit, die hier überall herrscht, reizt so zur Arbeit und Thätigkeit, daß ich mich wahrhaft nach Thätigkeit sehne und eilen werde, möglichst bald nach Neapel zu kommen.

− Doch ich sehe mich da auf einmal mit Schrecken mitten in einer Predigt, zu der mich die Begeisterung für das klassische Alterthum und der Widerwille gegen das sogen. christliche Mittelalter und die moderne Neuzeit hingerissen hat. Heute werde ich also von Rom selbst nicht viel mehr schreiben können. Nur das noch, daß dasjenige, was mich nächst dem klassischen Alterthum − den griechischen Statuen und den römischen Bauten − am meisten entzückt hat, die herrliche Lage und Umgebung Roms ist, die ich mir nicht halb so schön vorgestellt hatte. Die Sabiner, Latiner und Albaner Gebirge, die den Hintergrund im Osten bilden, haben überaus schöne Formen und Farben, zu dem die weite öde Ebene der Campagna, und die äußerst malerische Gestaltung der 7Hügelstadt selbst in der schönsten Weise contrastirt. Ich kann mich an diesem herrlichen Landschaftsgemälde, das sich immer von neuen Seiten dem Auge darbietet, nicht satt sehen. ||

Mein Lebenslauf ist in diesen ersten 14 Tagen in Rom überhaupt sehr regelmäßig gewesen und das ist ebenfalls nach dem unruhvollen 3wöchentlichen Umhertreiben auf der Reise sehr angenehm. Im Allgemeinen ist jeder Tag so eingetheilt: Um 6 Uhr (oft auch schon um 5½) stehe ich auf und entwerfe nach meinen beiden Reisehandbüchern (Foerster und Lossow, die sich beide wesentlich ergänzen) den Plan für die Aufgaben des Tages. Um 8 Uhr gehe ich über den Monte Pincio, die spanische Treppe hinunter (die Du noch aus dem Panorama von Enslin kennst) in die nahe Via Condotti, wo ich in dem altberühmten Caffè Greco antico frühstücke, woselbst ich immer viele Künstler und Deutsche treffe. Den edlen Moccatrank mit ausgezeichneter Sahne schlürfe ich fast tropfenweis hinunter, da es der ausgezeichnetste Kaffee ist, den ich je getrunken, ein wahrhaft lucullischer Genuß und der einzige, der meinem Cadaver hier zu Gute kommt. Da Du weißt, welchen hohen Werth ich auf den Kaffee als wesentliches Erfrischungs- und Stärkungsreizmittel lege, wird Dir diese Apotheose begreiflich erscheinen, und ich wünsche nur, daß mir meine künftige norddeutsche Hausfrau nur halb so guten immer praepariren möchte. Gewöhnlich e esse ich dazu 2 Maritozzi, ein leichtes, gutes römisches Nationalbrod, und lese oft die Augsburger Allgemeine Zeitung. Um 9 Uhr gehe ich in das Cafe am Ende der Via Angeli Custode und hole Diruf und die 3 Damen ab, die dort wohnen. Mit diesen verlebe ich dann den ganzen Tag in der angenehmsten Weise. Dr. Diruf ist ein sehr gescheuter und gebildeter Mann, von großer Erfahrung. Er war jetzt 10 Jahr in Neapel der erste deutsche Arzt und er wird jetzt an Stelle seines verstorbenen Bruders Badearzt in Kissingen. Mit großer wissenschaftlicher Bildung verbindet er eine sehr liebenswürdige Persönlichkeit, so daß ich mich, obwohl er 10 Jahr älter ist, höchst intim und herzlich mit ihm stehe; dazu sind seine Mittheilungen über Neapel und das dortige f Leben besonders interessant und wichtig. Von den 3 Damen, die alle sehr munter und jugendlich mobil sind, unterhalte ich mich am meisten mit der Frau Blöst, die Dir auch gewiß sehr gefallen würde, da sie sehr natürlich, naiv und dabei mit einem sehr lebhaften und feinen Gefühl für Natur- und Kunst-Schönheiten begabt ist. In ihrem gesunden naturwüchsigen Urtheil und Ideengang erinnert sie mich oft an Dich und ich muß ihr immer viel von Dir erzählen. Sie ist etwa 32 Jahre alt und die Frau eines Schweizer (Luzerner) Hauptmanns g in neapolitanischen Diensten. Nicht nur jetzt ist mir diese Bekanntschaft sehr angenehm, sondern kann mir auch in Neapel sehr vortheilhaft sein. Sie ist eine geborene Mannheimerin und besitzt ganz das lebhafte muntere Naturell der Pfälzer und Rheinländer. Auch die beiden Schwägerinnen des Dr. Diruff, Frl. Angelica und Helisena Girl aus Augsburg, sind muntere natürliche Mädchen. Letztere malt recht hübsch. ||

Den Vormittag bringen wir gewöhnlich mit Besichtigung einer größeren Gemälde- oder Antikensammlung, eines Palastes oder mehrerer Kirchen hin, während wir den Nachmittag meist einen Ausflug in die nächste Umgebung machen. Das Nähere soll euch das Tagebuch im nächsten Brief sagen. Die Umgebung Roms haben wir bisher in ihrem vollen Farbenglanz gesehen, obwohl der Frühling eigentlich noch nicht mit frischem Grün da ist. Aber die ungetrübte Kraft der vollen Sonne malt hier Stadt, Campagna und Berge mit so wundervollen Farben, namentlich rothen und violetten Tönen an, daß man bei uns im Norden nur eine schwache Vorstellung davon machen würde. Doppelt schön sehen die Berge dabei aus, weil auf den höchsten Gipfeln der Apenninen überall noch ein zusammenhängender Schneeteppich glänzt. Jeden Tag haben wir die herrliche Lage der Stadt, mit dem Gebirge im Hintergrund, mit neuem Vergnügen angesehen. Wir sind aber auch so vom Wetter begünstigt, wie es hier im Frühjahr nur sehr selten der Fall sein soll. Mit Ausnahme eines einzigen trüben Tages hat uns diese ganzen 14 Tage beständig die volle warme Sonne vom dunkelblauen wolkenlosen Himmel angestrahlt. Das giebt dann hier Temperatureffecte und Kontraste, die wirklich wunderbar sind. Während früh bis 8 Uhr in den ersten Tagen meines Hierseins, wo eine sehr heftige Tramontana (Gebirgswind) wehte, an dem Barte des wasserspeienden Tritonen auf der Piazza Barberini, dicke fußlange Eiszapfen hingen, und Abends die Hände ganz steif wurden, war es zu Mittag in der vollen Sonne so glühend heiß, daß man den Rock ausziehen mußte. Schon die Unterschiede der unmittelbar sich begrenzenden Luft in der Sonne und im Schatten sind auffallend groß, noch mehr aber die von der Luft innerhalb und außerhalb der Gebäude. Während in den Sammlungen der großen Paläste noch eine eisige Kellerluft herrscht, wird man beim Heraustreten durch eine um 15–18° höhere Temperatur überrascht. Begreiflicherweise sind diese jähen und bedeutenden Temperaturwechsel nichts weniger als gesund und namentlich Brustkranken sehr nachtheilig, weshalb für diese das Römische Klima lange nicht so paßt, wie es immer empfohlen wird. In mein freundliches, hübsches Zimmerchen scheint die Sonne tagüber so warm hinein, daß es mir, wenn ich Abends nach Hause komme, wie geheizt vorkömmt und ich noch gar nicht darin gefroren habe, selbst wenn ich bis 1, 2 Uhr Nachts geschrieben habe. Die Existenz ist also auch in diesem Punkte weit gemüthlicher und angenehmer als in Florenz; und ich lebe ordentlich wieder dabei auf. ||

Vielleicht erwartet ihr diesmal eine ausführliche Schilderung des Carneval von mir; dann täuscht ihr euch aber ebenso, wie ich durch das viele Gerede und Geschreibe über dies berühmteste Volksfest in Rom, ja jetzt vielleicht in der Welt, getäuscht worden bin. Im Ganzen kann ich kurzgefaßt nur das Goethesche Urtheil unterschreiben: „Man muß den Carneval in Rom selbst gesehen haben, um den Wunsch los zu werden, ihn jemals wieder zu sehen!“ Der Carneval ist diesmal hier so überaus glänzend, wie er überhaupt nur je gewesen ist. Zum ersten mal seit vielen Jahren ist wieder das allgemeine Maskentragen und mehrere andere Freiheiten von dem französischen Stadtcommandanten, General Gyon, erlaubt (vielleicht in der Erwartung, daß so Skandal entstehen und dadurch das Militär Gelegenheit finden würde, sich noch weiter festzusetzen). Ferner begünstigt den Carneval ausnehmend das fortdauernde wunderschöne Wetter, sowie die in diesem Jahre außerordentlich starke Fremdenfrequenz, unter der sich viele Personen höchsten Ranges befinden. Die Umstände haben also in der That zusammengewirkt, um das Fest so glänzend als nur irgend möglich zu machen, und in seiner Art mag es wirklich vollkommen sein. Aber auf mich hat es trotzdem so gut wie gar keinen Eindruck gemacht und ich habe wenigstens die Genugthuung, dasselbe von vielen meiner deutschen Landsleute zu hören. Die Erklärung liegt einfach darin, daß das ganze Fest unserm norddeutschen Nationalcharakter ebenso zuwider ist, wie das ganze italienische Volksleben überhaupt. Das ganze Vergnügen besteht darin, daß die Leute sich gegenseitig entweder mit Blumensträußchen und Confect oder mit Gyps und Mehl bewerfen. Das einzige, was mich dabei interessiert hat, sind theils die schönen phantastischen Nationaltrachten aus der Campagna und dem Gebirg, die man dabei in Menge sieht, theils die schönen Gesichter, die in ebenfalls nicht geringer Anzahl sich sehen lassen. Doch gehören dieselben, wenigstens beim weiblichen Geschlecht, zur größeren Hälfte den Engländern an, die überhaupt jetzt durch ihr großes Carnevalscontingent und ihre reichen Mittel die eingebornen Römer fast zu verdrängen anfangen. Unter den vielen Engländerinnen, die die Balkone zieren, sind in der Tat nicht wenige Gesichter, die sich durch edlen, regulären Schnitt und schönen Ausdruckh den besten Marmorgestalten des griechischen Alterthums an die Seite stellen könnten. Aber auch unter den Römerinnen sieht man manche sehr schöne Gesichter von charakteristisch südlichem Typus, obwohl viel weniger, als man gewöhnlich denkt. || Am reizendsten sehen die kleinen, 10–15jährigen Buben aus der Campagna aus, mit hohem spitzem Filzhut, langen braunen Haaren bis über die Schultern herab, eben so dunkelbraunen, glänzenden, großen Augen und einem allerliebsten Gesicht aus dem Ziegenfell i oder aus der blauen Jacke hervorguckend; dazu gewöhnlich halbe Hosen mit langhaarigem Ziegenfell, lederne Schienen für die Unterschenkel und Sandalen. Aber auch die alten langbärtigen Männer in ähnlicher phantastischer Räubertracht, aus der Campagna und aus dem Gebirg, sehen nicht minder malerisch aus. Die Mädchen vom Land sind meist sehr malerisch in Weiß, Roth und Gold gekleidet. Der Hauptschauplatz des Carnevals ist der Corso, die lange enge Hauptstraße der Stadt, die von der Porta di Popolo bis zur Piazza di j Venezia geht und in welcher 2 ununterbrochene Wagenreihen nebeneinander auf und abfahren. Die schmalen, übrig bleibenden Zwischenräume sind mit Fußgängern, großentheils Masken, vollgestopft. Alle Fenster und Balkone der festlich geschmückten (namentlich mit rothen Teppichen behangenen) Häuser des Corso sind bis oben hin mit Zuschauern vollk, welche von oben herab werfen und von denen zu Wagen und zu Fuß unten geworfen werden. Das Alles hat natürlich nur Sinn, wenn man hier viele Bekannte hat. Insbesondere ist dazu aber, wie mir heute ein Maler ganz richtig auseinander setzte, nöthig, daß man, wie es hier bei jedem anständigen Römer aus den höheren Ständen Sitte ist, außer seiner Frau oder Braut wenigstens noch 10 verschiedene Liebschaften unterhält, mit denen man dann während des Carnevals in der verschiedensten Weise anknüpft und weitere Verhältnisse ausspinnt. Des Pudels Kern läuft dann wesentlich auf ein complicirtes Intriguenspiel hinaus. So etwas kann einen Italiener wohl in Entzücken versetzen; für uns Nordländer ist es aber, Gott sei Dank! gar Nichts, und was ich speciell hierbei für Gedanken gehabt habe, könnt ihr euch denken. Da ich natürlich keinen Menschen von all den Corsoherumläufern und Prinzessinen kenne, und noch weniger Lust habe, Bekanntschaft anzuknüpfen, so beschränkte ich mich rein auf objectives Beobachten des höheren Blödsinns, wobei mir aber bald so nüchtern und hohl zu Muth wurde, daß ich, nachdem ich 2 Nachmittage pflichtmäßig ausgehalten, die andern 6 mit vielen Vergnügen dran gab und an das Herz meiner lieben Natur, auf die Berge, flüchtete. ||

Rom. 1.3.59. Endlich, endlich, mein liebstes, süßes Schatzchen, habe ich gestern zum ersten Mal seit fast 3 Wochen, Nachricht von euch bekommen, nachdem ich die ganze erste Woche in Rom täglich vergeblich zu Post gelaufen war. Wie sehr ich mich in diesen letzten 14 Tagen nach einem Brief gebangt habe, kannst Du Dir denken, namentlich zu meinem Geburtstage hätte ich gern ein Lebens- und Liebeszeichen gehabt. Um so größer war dann gestern meine Freude, als ich 2 Briefe zugleich erhielt, den von Dir am 17.2. abgeschickten (der am 26. hier angekommen ist, den sie mir aber trotz täglicher Nachfrage erst gestern gegeben haben) und den von den Eltern am 12. aus Berlin abgeschickten, der am 17ten in Florenz (poste restante) angekommen ist, am 28ten hierher nachgeschickt. Zu meiner größten Betrübniß sehe ich aber aus dem Briefe, daß ich 2, von Dir am 11ten und 15ten nach Florenz abgeschickte Briefe nicht bekommen habe, wahrscheinlich auch einen von den Eltern zum 16ten dorthin geschickten nicht. Ich habe vor meiner Abreis nach Florenz alle mögliche Vorsichtsmaßregeln getroffen, daß die Briefe sowohl vom Hôtel Fortuna, als von der Post hierher nachgeschickt werden. Trotzdem haben die schändlichen Schurken es doch nicht gethan. Hier wundert sich freilich Niemand darüber. Die eine Lehre habe ich aber nur per praxia hier gelernt, nie wieder poste restante oder an einen Gasthof zu adressiren, sondern immer nur an eine bestimmte Adresse eines zuverlässigen Privatmanns. Für Rom also an meine einliegende Adresse. Für Neapel werde ich euch nächstens auch die Adresse schreiben. Übrigens werde ich jedenfalls an den Maler Krafft in Florenz schreiben, daß er den infamen Kerls dort auf die Bude rücken und womöglich die Briefe noch herauszubekommen und nachzuschicken suchen soll. Übrigens bitte ich Dich sowohl, als die Eltern, jedesmal auf die Rück- (Siegel) Seite Name und Wohnung des Absenders zu schreiben, ferner mir genau anzugeben, welche Briefe von mir, und wann sie angekommen sind. Nach den jetzt hier eingezogenen Erkundigungen scheint es auch für Rom sicherer (via di mare) oder via Marseille hinzuzusetzen. Hab 1000 Dank für Deinen herzigen Brief, süßer Schatz und schreib recht bald wieder. Hoffentlich geht es Dir jetzt auch besser, als in den ersten Wochen und Du hast Dich schon etwas in die Trennung gefunden. Mir geht es hier in Rom viel besser; theils nimmt mich all das herrliche Große in Kunst und Natur so in Anspruch, daß wenigstens die allzu wehmüthige Sehnsucht etwas gestillt wird, anderseits habe ich so sehr nette deutsche Gesellschaft den ganzen Tag, als ich mir wünschen kann. Von früh 9 Uhr bis Abends 8 Uhr bin ich mit Dr. Binz, Dr. Diruff und seinen 3 Damen zusammen, die äußerst mobil sind. Wir besehen Alles den Tag über gemeinschaftlich. Abends besuche ich gewöhnlich noch Hirtzel oder Kunde.

Für heute herzlichsten Gruß. Bald mehr. Ich denke noch 3 Wochen in Rom zu bleiben. ||

[Beilage]

Ich schreite aus dem Thore

Ins weite öde Feld.

Dort ist der große Kirchhof

Der alten Römerwelt.

Die ruht von Lieb und Hasse,

Von Lust und Kampf und Strauß,

Dort, an der appischen Straße

Im Marmorgrabe aus.

Mich grüßt der Thurm, vergoldet

Vom Abendsonnenstrahl

Caecilia Metella,

Dein trutzig Todtenmal.

In seinen Trümmern steh ich,

Den Blick gen Nord gewandt,

Da fliegen die Gedanken

Weit übers wälsche Land!

Zu einem andern Hause

Das hat viel kleinere Stein,

Am rebumrankten Fenster

Sitzt die Herzliebste mein. ||

Dies Gedichtchen, was ich beim Herumsteigen in den Ruinen immer für mich hingesungen habe, ist aus dem „Trompeter von Säckingen“ von J. Scheffel, einem Universitätsfreunde Karls. Der einliegende niedliche Crocus ist am 16.2. auf den Stadtmauern Luccas gepflückt, wo ich die herrliche Fernsicht auf die schneebedeckten Apenninen hatte. – Dein niedliches Mooskränzchen zum 16. hat mich sehr erfreut, lieber Schatz und ist mir durch seine niedliche Symbolik doppelt lieb. Hab einen herzigen Kuß dafür Du bester Schatz, wie für alle Deine reiche Liebe, für welche Du zum Lohn auch Deinen Erni, der ganz Dein Eigenthum ist, recht brav, stark und fest, und mit vielem schönen Wissen bereichert, aus den Hesperischen Gefilden wieder glücklich zurückhaben sollst.

[Nachschrift an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel]

Liebe Eltern!

Laßt euch aus der Papierhandlung der Gebr. Ebart, Mohrenstr. (nahe dem Wilhelmsplatz, rechts) ½ Rieß dieses feinsten, dünnsten Postpapiers kommen. Ihr könnt dann jedesmal 1½ ganze große Bogen oder 3 halbe inclusive Couvert, welches aus dem Bogen selbst zu bilden ist!) schreiben.

− Schreibt doch auch ob ihr noch Porto habt nachzahlen müssen! ||

Al Signore Dottore –

di Berlino.

Roma

Via felice 107

secondo piano.

a eingef.: schöner; b durch Tintenfleck verdorben: sich aneignen; c eingef.: andern: d gestr.: ist; e gestr.: ich; f gestr.: doppel; g gestr.: aus der; h gestr.: That; eingef.: Ausdruck; i gestr.: aus; j gestr.: Espagna; k korr. aus: vollge

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
01.03.1859
Entstehungsort
Rom
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38263
ID
38263