Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Monte Cavo und Rom, 24. 26. März 1859

Monte Cavo. 24.3.59.

Einen schönsten guten Morgen, mein lieber Schatz!

Hoffentlich lacht Dir heute die Sonne recht fröhlich in Dein liebes Gesicht, während es hier um mich nach Möglichkeit stürmt, hagelt und regnet. Schwerlich werde ich Dir wohl je wieder aus einer so pikanten, wenn auch nicht grade angenehmen, Lage, guten Morgen wünschen. Ich befinde mich nämlich in dem Passionistenkloster auf der Spitze des Monte Cavo, des höchsten Berges im Sabinergebirge (3000ꞌ ü. M.). So eben hat der Prior und der Pater Guardian vergebliche Bekehrungsversuche mit mir angestellt, nachdem ich ihm sehr freimüthig einiges von meinen ketzerischen Grundsätzen ausgekramt und die Lichtseiten der evangelischen Religion neben den Schattenseiten der katholischen möglichst herausgehoben hatte. Wären die Leute nicht so demüthig und wirklich von Herzen gutmüthig, so hätten sie über den krassen Ketzer wirklich wild werden können, der erst ihre Wohlthaten genossen und nun nicht einmal ihren theuren Glauben anerkennen will. Im Stillen gaben sie mich, nachdem die verschiedenen Expositionen über die Jungfrau Maria und die 2 Heiligen fruchtlos an mir vorüber gezogen, verloren und dachten nur an die lange Fegefeuerstation, die ich würde durchmachen müssen! (Als ob ich die nicht schon jetzt, in der Trennung von Dir, durchmachte!) Namentlich konnte sich der Guardiano gar nicht zufrieden geben, daß ein „cosi bel giovinetto!“ dem allein seligmachenden Glauben verloren gehen sollte und wandte seine ganze Überredungskunst an, um mich, wenn auch nicht zum „frate“ (Mönch), so wenigstens zum cattolico zu machen, obgleich er mir versicherte, daß ich zum frate ganz besonders geeignet wäre (vermuthlich weil ich die elende Existenz hier mit wirklich mönchischer Geduld ertragen hatte!) Was jedoch das Mönchwerden betrifft, so hats damit noch gute Weile, und die Proben, die ich gestern und heute davon erlebt, haben mich grade nicht lüstern danach gemacht. Doch ich will Dir meine Abentheuer von gestern aller Ordnung nach erzählen. Nachdem meine Wohnungsmiethe am Dienstag 22. abgelaufen war, machte ich mich gestern (Mittwoch) auf den Weg ins Gebirg, welches ich mir vor der Abreise nach Neapel noch recht gründlich ansehen wollte, da ich durch mehrere entzückende Schilderungen nach seinen wundervollen Naturreizen sehr lüstern geworden war. Ich hatte mir den Plan gemacht, 8–14 Tage mit Aquarelliren, Botanisiren und Umherkriechen, so recht im Naturgenuß à mon gôut, daselbst zuzubringen und mir folgende Route dazu entworfen: ||

Von Rom mit Eisenbahn nach Frascati; dann zu Fuß nach dem Rocca di Papa, Campo d’Hannibale, Monte Cavo, über Palazzuola herab nach Nemi, um den wundervollen Nemisee herum nach Genzano, dann nach Civita Lavigna (Lanuvium), Monte Giove, Valle Arricia, Arricia, Albano, a Castel Gandolfo, Marino, Grotta ferrata, Frascati. Nachdem ich alle Schönheiten des Albaner Gebirgs gekostet und mir auch die vielen schönen Villen bei Frascati und Tusculum (Ciceros altem Landsitz) angesehen, wollte ich über Monte Porzio, Compatri, San Cesario quer hinüber nach dem Sabinergebirg gehen, wobei ich gleich die Campagna, die beide Gebirge trennt, mitten durchschritten und so recht kennen gelernt hätte. Zagrolo zur Linken lassend, wäre ich nach Palaestrina (Praeneste) gekommen, und hätte von dort einen Weg nach Gennazano, Pagliano, Olevano, über Sotto Rojati nach Subiaco genommen. In diesem Centrum der Sabiner Gebirgsnatur wollte ich recht con amore umher streifen, dann über Cervara, Vicovaro nach Tivoli gehen und von da den höchsten Punkt des Sabinergebirges, den Monte Gennaro besteigen. Von Tivoli mit Dilgence nach Rom zurück.

Aus diesem ganzen schönen Plan wird nun wohl leider nichts werden, da das Wetter, welches 4 Wochen lang so ununterbrochen herrlich schön war, nun auf einmal unbeständig geworden (seit 8 Tagen) und seit gestern in ein Regenwetter umgeschlagen ist, welches sehr dauernd anzuhalten droht. Ich habe also nur den kleinsten Theil meines Plans, dessen Genüsse, namentlich das Aquarelliren, ich mir schon so schön ausgemalt hatte, zur Ausführung bringen können, und auch dies Stückchen schon ist verunglückt. Ich fuhr gestern mit dem ersten Frühzug mit der Eisenbahn von Rom nach Frascati. Es ist dies die einzige, kurze Eisenbahnstrecke, welche von Rom aus fertig ist und ebenso schlecht und in jeder Beziehung embryonal, wie etwa das römische Unterrichtswesen. (Die Eisenbahn nach Civita vecchia, eines der dringendsten Bedürfnisse, die schon seit mehreren Jahren jeden Monat eröffnet werden soll, wird wohl diesen vielersehnten Moment noch sehr lange hinhalten.) In Frascati, an der Nordwestecke des Albanergebirgs gelegen, traf ich drei Russen (2 Historienmaler und einen Arzt). Mit letzterem unterhielt ich mich deutsch, mit ersterem italienisch. Der Dr. Krause aus Kiew war ein recht netter Mann, der mir viel von dem glänzenden Leben der Ärzte in Rußland erzählte. || Die 3 Russen wollten ebenfalls den Monte Cavo besteigen, aber mit Hülfe von b Mauleseln. Ich schloß mich ihnen an, natürlich zu Fuß, und war, trotzdem die Eselchen einen recht guten Schritt gingen, doch meist voraus, worüber der Eseltreiber sich nicht wenig ärgerte und seinem Ärger durch die Worte Luft machte: „Questo puo far soltanto un Tedesco!“ („Das kann auch nur ein Deutscher thun!“) Rascher, als ein Esel, zu Fuß zu gehen, war offenbar in seinen Augen eine große Gemeinheit. Der Weg führte durch sehr angenehme Landschaft, abwechselnd mit schönen Villen, Gärten, Feldern, kleinen Wäldern bedeckt. Die Letzteren, welche es im Sommer reizend machen müssen, waren leider jetzt noch ganz kahl. Dagegen erfreute mich meine geliebte Flora durch den Anblick einiger ihrer reizendsten Frühlingskinder, welche in schönster Fülle den Waldboden mit ihren Blüthen schmückten: eine prächtige, himmelblaue Anemone (ich glaube: Apennia), ein dunkelblauer Crocus, eine hellblaue Scilla (vielleicht unsere Scilla bifolia, obwohl etwas größer), ferner ein paar violette Pulmonarien (davon das eine mit weißbezuckerten Blättern: saccharata?). Weiter oben am Berge und nahe dem Gipfel des Monte Cavo fand ich eine gelbgrün blühende Daphne (Laureola?) und unser reizendes Schneeglöckchen, welches ich bisher noch niemals wild gefunden hatte. Nach 2stündigem Marsche waren wir in Rocca di Papa, der alten Arx Albana, angelangt, einem äußerst malerisch an dem schroffen Abhang eines mächtigen Felsblockes angeklebtem Gebirgsstädtchen. Unmittelbar darüber breitet sich, in weitem Halbkreis von Bergen umkränzt, eine flache Hochebene aus, das sogenannte Campo d’Hannibale, von wo aus Hannibal den Plan zur Einnahme Roms entworfen und seine Truppen geordnet haben soll. Von hier aus hatten wir bis zum Gipfel des Monte Cavo noch ½ Stunde durch Wald zu steigen. Leider hatte sich der am Morgen ganz klare Himmel mit schweren Wolkenmassen in der letzten halben Stunde bedeckt und schon fingen einzelne große Tropfen an herabzufallen. Wir eilten daher möglichst, unser Asyl zu erreichen und hatten kaum darin Posto gefaßt, als ein Unwetter losbrach, von dessen Intensitaet man sich bei uns keinen Begriff macht. Regen fiel nur wenig, aber desto mehr Hagel, den ich nie in solcher Masse beisammen gesehen. In weniger als 2 Stunden war der Fußboden mit einer ¾ Fuß (!) dicken Schicht von durchschnittlich kirschkerngroßen Hagelkörnern bedeckt, welche nachher im Laufe des Tages zu einer zusammenhängenden homogenen Eisdecke zusammenschmolzen, die etwa 4" dick war und so fest, daß die Hunde, ohne einen Eindruck zu machen, darüber hinwegliefen.║

Unser Empfang in dem Kloster, das wir grade vor Thoresschluß erreichten, war von Seiten der Mönche sehr freundlich, weniger von Seiten des Zimmers, das uns wie eine eiskalte Grabesgruft vorkam und von Seiten der Speisen und Getränke, deren Qualität und Quantität der Enthaltsamkeit der Mönche alle Ehre machten. Um zuerst die Kellerluft aus dem Zimmer zu vertreiben, sperrten wir, trotz des dichten Hagels, Thüre und Fenster auf und zündeten auf dem Heerde ein lustiges Kaminfeuer an, das uns bald die erstarrten Glieder erwärmte und belebte. Als das Einzige, was wir zu essen bekommen konnten, wurden uns Wein, Brod, Käse und Eier angeboten; doch erschienen alle diese Kostbarkeiten, da die Mönche eben eine geistliche Übung vorhatten, erst um 2 Uhr, nach 2stündigem sehnsüchtigem Warten. Doch war ihre Qualität so bedenklich, daß wir trotz großen Hungers bald auf den Genuß verzichteten. Der Wein war nur verdünnter Essig, das Brot steinhart und völlig ausgetrocknet, der Käse ranzig und verschimmelt; die Eier, von denen wir leider nur wenig bekommen konnten, waren, wie überall, das Einzig gute und genießbare. Trotz dieser kärglichen Bewirthung machte ich mir es doch bald bei dem warmen Feuer ziemlich behaglich, während die Russen sich nicht darein finden konnten und nach 2stündigem Warten und Schimpfen in argem Regen wieder auf ihren Eseln wieder nach Frascati herunter trabten. Ich blieb zurück, um jedenfalls wenigstens morgen noch mein Glück zu versuchen. Um 5 hörte plötzlich der Regen, nachdem es ½ Stunde lang tüchtig gedonnert und geblitzt hatte (der Widerhall des Donners in den Gebirgskesseln war herrlich), auf und es hellte sich so weit auf, daß ich noch 1 Stunde lang, zuletzt bei herrlicher Abendbeleuchtung, die merkwürdige Aussicht von dem Balkon des Klosters nach Westen und Norden genießen konnte.

Zu den Füßen dichte Waldmassen, jetzt leider ganz braun und kahl, mitten darin die beiden berühmten schönen runden Gebirgsseen von Nemi und Albano, rings von je einem runden Gebirgswall eingeschlossen, in der Mitte wie 2 grüne Brillengläser, durch einen schmalen Nasen- (Gebirgs) Rücken verbunden. In dem Wald am Fuß der Berge die reizend gelegenen Ortschaften, von links nach rechts sich folgend: Nemi, Genzano, Ariccia, Albano, Marino, Grotta ferrata, Frascati. Darüber die weite grüne Campagna und über dieser ein breiter dunkelblauer Gürtel des Tyrrhenischen Meeres. Nach Norden Rom, mitten in der Campagna, und die vorspringenden Ausläufer des schönen Sabinergebirgs. ||

Als es dunkel geworden, brachte mir ein Mönch um 7 Uhr eine Lampe, doch mit dem Bedeuten, daß sie nur bis 8 Uhr brennen dürfe, da nach 8 Uhr kein Licht mehr im Kloster sein dürfte. Zugleich lud er mich ein, mich ins Refectorium zu begeben, um dort (in Gesellschaft eines Schusters, der zum Sandalenflicken da war) mein Abendmahl einzunehmen. Ich folgte der Einladung nur ungern, und wie ich bald sah, mit Recht. Denn der dürre, nur in Wasser aufgekochte Stockfisch, den sie mir vorsetzten, war wirklich nicht zu genießen. Eier konnte ich nicht bekommen, weil man diese in der Quaresima (Fastenzeit) wie die Milch nur einmal täglich essen darf! Um 8 Uhr stieg ich also sehr hungrig in das Bett, welches mir, in einer kleinen Büßerzelle im oberen Stock, zubereitet war und welches, abgesehen von den reichen Insectenschwärmen, die hier nirgends zu vermeiden sind, und an die man sich ganz gewöhnt, leidlich war. Der Mönch hatte mich schon im voraus darauf aufmerksam gemacht, daß ich 2mal in der Nacht durch ihre geistlichen Andachtsübungen geweckt werden würde. Um 12 Uhr erhob sich denn auch ein Lärm, der hinreichend gewesen wäre, selbst die Todten am Tage des jüngsten Gerichts zu erwecken. Durch die langen Corridore, Treppauf, Treppab, schritt ein Mönch mit einem colossalen Lärminstrument, ähnlich einer Riesencastagnette, deren schrillendes Gerassel auch die faulsten Brüder aus dem Bett holen mußte. Dann wurde über ¼ Stunde mit der Glocke geläutet und hierauf über ½ Stunde in dem Chor Bußlieder gesungen, so daß ich erst nach 1 Uhr wieder ans Einschlafen denken konnte. Um 4 Uhr wiederholte sich dasselbe Maneuvre, worauf ich denn bald aufstand und mich zum Abziehen aus dem Bußorte fertig machte. Doch fand ich bei Tagesanbruch Berg und Thal in so dichten Nebel gehüllt, daß ich vorläufig noch abwarten mußte. Um 8 Uhr, nachdem ich eben ein Zwergtäßchen schwarzen Kaffee geschlürft, das Einzige Gute, was ich außer den paar Eiern in dem Kloster bekommen, erschien mein Pater Antonio, um mich zur Messe abzuholen, wobei denn meine entsetzliche Ketzerei zu Tage kam, die dem armen Bruder solchen Schrecken einjagte und ihn zu den vergeblichen Bekehrungsversuchen veranlaßte, von denen ich Eingangs dieses Briefes berichtete, und von denen ich mich jetzt durch Briefschreiben erhole. Doch da hört so eben der Regen auf, die Nebel zertheilen sich etwas, und ich will den freien Moment benutzen, um aufzubrechen und nach Frascati zurückzukommen zu suchen. ||

Rom. 24.3.59

So eben bin ich abends 8 Uhr glücklich wieder in meiner freundlichen römischen Behausung eingetroffen, wo ich durch die Ankunft Deines am 17ten abgeschickten Briefes, mein liebster Schatz, durch den Du mich sehr erfreust, überrascht wurde. Ich will nun gleich noch den Schluß meiner verunglückten Gebirgstour hier hinzufügen. Um 11 Uhr ungefähr verließ ich das Passionistenkloster auf dem Monte Cavo, in dem ich einen in mancher Hinsicht so interessanten Tag verlebt hatte. Wenn ich auch keineswegs überzeugt bin, daß die Mönche dort immer so schlecht leben, wie sie mir es zu kosten gaben (sie lassen sichs gewiß unter sich recht bene sein!), so war es doch schon merkwürdig genug, zu sehen, wie sie eigentlich nach ihren strengen Ordensregeln leben müssen, und mir speciell war dies doppelt interessant, da ich noch nie so mit dem Klosterleben speciell bekannt geworden war. Natürlich ist mein Abscheu davor nur dadurch gesteigert worden, denn der fromme Dünkel und das heilige Selbstgefühl, mit dem diese pietistischen Betbrüder sich etwas Besseres, als die andern Leute dünken und einen besonderen Stein beim lieben Gott im Brett zu haben glauben, sind mir ebenso abschreckend, als ich das faule Nichtsthun, wobei sie nur singen und beten und dann die Hände in den Schoß legen, viel weniger achten kann, als die tägliche Arbeit eines andern gesunden Menschenkindes. Auch liegt in der ganzen Lebensweise zu viel Unnatürliches, als daß man davon erbaut sein könnte; und die Widersprüche zwischen ihrem Reden und Thun sind auch nicht gering. So wollte sich beim Abschied der Pater Guardian nicht dazu verstehen, eine Rechnung zu machen, strich aber das Geld, was ich „per carita“ als elemosine, als Almosen für die Kirche (per la chiesa!) dortließ, mit dem größten Vergnügen ein. Meinen Rückweg vom Kloster schlug ich direct nach Frascati ein, wobei ich mich etwas im Walde verirrte. Doch war mir das ganz lieb, da ich in einem kleinen Waldthale dabei sehr malerische, mit Epheu überwucherte Reste einer römischen Wasserleitung fand und auch noch durch mehrere hübsche Blumen erfreut wurde, ein Symphytum (tuberosum?), Ulex, eine Boraginee etc. Um 2 Uhr langte ich auf einem etwas anderen Wege wieder in Frascati an. Ich benutzte die noch übrige Zeit, um eine kleine Excursion nach den || Ruinen von Tusculum und insbesondere nach Ciceros Tusculanischer Villa zu machen, die auf dem nächsten über Frascati sich erhebenden Berge liegen. Die Ruinen selbst sind sehr unbedeutend, Reste von Mauern, Thoren und einem kleinen Amphitheater; dagegen ist die Aussicht auf die Gebirge, die Campagna, Rom selbst und das weite Meer, sehr schön. Etwas andere, gleichfalls sehr hübsche Aussichten hatte ich auch noch von den Höhepunkten der beiden Villen, Aldobrandini (dem Fürsten Borghese) und Rufinelli (dem König von Sardinien gehörig), über welche ich wieder nach Frascati herabstieg. Von ersterer, die in ihren schönen großen Park- und Waldanlagen viele hübsche Wasserkunstsachen enthält, Springbrunnen, Cascatellen etc, sieht man besonders auf die Campagna, Rom und das Meer; von letzterer vorzüglich schön nach Norden in die wilden Schluchten des Sabinergebirgs hinein. Die Sonne war eben aus den Wolken, die sich auf die höchsten Gipfel zurückgezogen hatten, hervorgetreten und warf prächtige Streiflichter in die düstere Gebirgslandschaft und auf die schimmernde, weite Campagna mit ihrem Ruinenschmuck, namentlich den langen Wasserleitungen, die ihr ein so eigenthümliches Aussehen geben. Um 5 Uhr fuhr ich von Frascati nach Rom zurück, wo ich mich durch eine gute Maccaronischüssel (mein tägliches Brod) für die Entbehrungen des Klosterlebens entschädigte. Doch nun gute Nacht, ihr Lieben, ich bin herzlich müde. –

Rom 26.3. Nachmittags

Vor meinem Abschied von der herrlichen alten Stadt muß ich euch doch noch einen herzlichen Gruß daraus senden, Ihr fernen Lieben! Es wird mir jetzt ordentlich schwer, schon wieder von ihr zu scheiden. Gestern hatte ich noch einen sehr genußreichen Tag. Ich ging gegen Mittag, nachdem ich um 10 Uhr in der Maria-Minerva Kirche die feierliche Celebration des Papstes zugesehen, in die Thermen des Caracalla, den colossalen sehr malerischen Ruinen dieser ungeheuren Bäder, die in der Vertiefung zwischen dem Coelischen und Aventinischen Hügel liegen und von denen aus man prächtige Aussichten nach allen Seiten genießt. Den ganzen Nachmittag brachte ich mit einer Aquarellskizze zu, die ich von einem der schönsten derselben entwarf, im Vordergrund die Ruinen, im Mittelgrund Wasserleitungsbogen, darüber der Lateran, im Hintergrund das Sabinergebirg, über das noch ein Stückchen vom schneebedeckten Apennin hereinschaut. ||

Gestern früh war ich zum letzten Mal auf dem Monte Pincio, dem höchsten Punkt des Stadttheils, in dem auch meine Wohnung ist, und sah noch einmal auf alle die Herrlichkeiten herab, die im schönsten Sonnenschein zu den Füßen sich ausbreiteten und mir die 4 Wochen des hiesigen Aufenthaltes so äußerst angenehm und genußreich gemacht haben. Rom prangte dazu gestern im vollsten Festtagschmuck; es war das Annunziatafest (Mariä Verkündigung), welches eine Menge Landleute in sehr malerischen Trachten in die Stadt gezogen hatte. Auch die päpstliche Function, bei der sich die ganze Pracht des höchsten Clerus entfaltete, war sehr malerisch anzusehen. Ich kam zufällig um ½10 Uhr auf den Minervaplatz, als alle die Cardinaele und Bischöfe in ihren goldverzierten Carossen angefahren kamen und in ihren äußerst prachtvollen, buntfarbigen, reich mit Gold und Edelsteinen überladenen Talaren ausstiegen und in die Kirche traten. Um 10 Uhr kam mit seiner goldenen Tiara der Papst selbst, vor dem seine Leibgarde herritt, ein sehr schmuckes Corps in halb mittelalterlicher Rittertracht, aus den Söhnen der vornehmsten Principes und Nobilis gebildet. Wenn man diese höchst raffinirte weltliche Pracht sieht, die auf größtmöglichsten Effect und äußerlichen Eindruck berechnet ist, muß man sich wirklich die Augen reiben, um sich zu besinnen, daß dieser prunkvollste weltliche Herr das rein geistliche Element der Menschheit repräsentiren soll, und sich Nachfolger und Statthalter Christi nennt, von dem er wohl die Worte auf der Zunge führt, aber nicht das Geringste in seinem ganzen Wesen zeigt. Diese hierarchische Pracht soll den Mittelpunkt einer Religion bilden, deren Wesen in der größtmöglichsten Einfalt, Demuth, Selbsterniedrigung besteht. Man muß wirklich stark verblendet sein, um auch in Rom noch an den Papst als Statthalter Christi glauben zu können. c So hatte ich noch am vorletzten Tage die beste Gelegenheit, das ganze Truggewebe dieses Götzendienstes zu durchschauen. Die kirchlichen Ceremonien in der Kirche selbst waren langweilig, wie immer, und nur der berühmte Chorgesang, der in der That sehr voll und schön ist, hatte für mich Interesse. Nun dieser Popanz wird wohl auch am längsten gedauert haben. Die Naturwissenschaften werden schon dafür Sorge tragen, daß er nicht allzu lange mehr figurirt. Einen starken Stoß erhielt er schon durch die Eisenbahnen, die jetzt im Kirchenstaat angelegt werden. [Briefschluss fehlt?]

[Beilage]

[Zeichnung – Plan von Rom auf der Innenseite des Briefkuverts]

a gestr.: Grotta Ferrata; b gestr.: einem; c gestr.: Auch machte

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
26.03.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38260
ID
38260