Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 4. August 1856

Würzburg 4/8 56

Liebe Eltern!

So eben erhielt ich durch Karl euern letzten gemeinsamen Brief an uns, vom 26/7. Zu meinem größten Vergnügen sehe ich daraus, daß euch das Bad gut bekömmt und der Aufenthalt überhaupt behagt. Die fernere Reise wird euch hoffentlich noch viel besser thun und alles, was das Bad versäumte, um euch vollständig auf den Damm zu bringen, gewiß nachholen. Namentlich wünsche ich, daß ihr den schönen Aufenthalt bei den Lieben in Bonn und Aurich recht con amore genießt und euch eures Lebens freut. Wie gerne wäre ich da bei euch, zumal mir jetzt eine gründliche Ausspannung aus meinen bisherigen Verhältnissen immer dringender nöthig erscheint, um mich geistig und körperlich flott zu erhalten. Die verflossenen 3 Sommermonate sind mir zwar in jeder Hinsicht äußerst nützlich gewesen, und icha habe es bisher in keiner Weise zu bereuen gehabt diesen ganzen Sommer dieser Stellung geopfert zu haben. Ich habe erstens die pathologische Anatomie, mit der ich mich nun seit 1½ Jahren unter Virchows Anleitung fast ausschließlich beschäftigte, ex fundamento los gekriegt, mehr, als ich für meinen speciellen Zweck wohl werde brauchen können und mehr, als ein gewöhnlicher Medicus nöthig hat. Ich habe ferner durch den beständigen, zwar nichts weniger, als angenehmen, aber äußerst bildenden und lehrreichen persönlichen Umgang mit Virchow außerordentlich viel nicht nur für meine speciell wissenschaftliche, sondern auch allgemein menschliche Ausbildung profitirt, so daß ich mich wirklich wesentlich verbessert und gar viele Unarten und Vorurtheile abgelegt zu haben glaube. ||

Trotz alledem halte ich aber ein weiteres Verbleiben in dieser Stellung für keineswegs irgendwie indicirt. Erstens will ich die pathologische Anatomie durchaus nicht zu meinem Specialstudium machen, welches vielmehr für alle Zukunft die „wissenschaftliche Zoologie“, d.h. die vergleichende Anatomie und Histologie sein wird. Zweitens sehe ich aber auch, daß, nachdem ich mir jetzt das Wesentlichste derselben angeeignet, ein fernerer Ausbau derselben bei weitem nicht die Zeit und Mühe lohnen würde, die eine solche Detaillierung erfordert. Im Grunde sind doch bei meinem Amte eine Menge höchst langweiliger Geschichten, z.B. die vielen Schreibereien mit Protokollen, Diarien, Sectionsgeschichten etc, welche die großen nebenbei eingehenden Vortheile für Ausbildung und Bereicherung der Kenntniße nur zum kleinen Theil aufwiegen. Endlich ist es auch hohe Zeit, daß ich behufs des Staatsexamens (im Winter 57/58) einmal die Medicin von ihrer andern mehr practischen Seite anfasse. Ich werde also die Stellung als Assistent von Virchow keineswegs in Berlin fortführen. Übrigens wird b die Sache auch schon ganz von selbst, und mit Virchows Wunsch, sich so gestalten, indem die Verhältnisse dort ganz andere, viel großartigere werden. Virchow bekommt dort eigentlich direct keinen Assistenten, sondern einen eignen Prosector (was der Privatdocent Dr. Hoppe aus Greifswald werden wird) und dieser letztere sucht sich dann seine Assistenten erst aus. Ich bin jetzt, wo ich die pathologische Anatomie allmählich satt zu bekommen anfange, und wo mir die anfangs so interessanten Sectionen durch ihre große Einförmigkeit und die stete Wiederholung im Ganzen sehr langweilig werden, ganz froh, daß ich sie nun einmal absolvirt haben werde und freue mich herzlich, daß ich den schönen Winter einmal so recht con amore in meinem netten Studirstübchen arbeiten und die vielen theoretischen Lücken in meinen medicinischen Kenntnissen gründlich werde ausfüllen können. ||

Was mir jetzt zunächst den längeren Aufenthalt in dem alten Würzburg, dem ich übrigens für seine 3jährige Lehrzeit äußerst dankbar bin, verleidet, ist die Reiseunruhe, der Wandertrieb, der wie bei den Zugvögeln ganz regelmäßig bei dem jährlichen Eintritt der periodischen Herbstferien sich geltend macht. Seitdem mir nun vollends Kölliker das köstliche Anerbieten gemacht hat, hat sich die vorher mühsam unterdrückte Reiselust mit aller Macht Bahn gebrochen und mein ganzer und einziger Gedanke ist jetzt das Meer mit seinen unendlich zahlreichen und wunderbaren Bewohnern. Der pathologischen Anatomie, der ich 3 Monate meinen ausschließlichen Dienst gewidmet, ist jetzt der Rücken zugekehrt und die Sektionen etc werden nur noch mit officiellem Fleiß, aber ohne jedes Specialinteresse ausgeführt. Es hat mich wirklich überrascht und erfreut zugleich, zu sehen, wie es nur eines so ganz geringen Anstoßes bedurfte, um mich ganz meinen alten lieben Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen wieder zuzuführen. Nun soll aber auch alle noch übrige Zeit vor der Reise darauf verwandt werden, mich möglichst gründlich dazu zu präpariren. Die genaue Entscheidung, wohin wir eigentlich gehen, wird erst in 14 Tagen circa erfolgen. An demselben Tage nämlich, als ich euren letzten, directen, lieben Brief erhielt, in dem Du, liebster Vater, mir mit der liberalsten Güte das Reisegeld nicht nur für Triest, sondern auch für Nizza versprichst, an diesem selben Nachmittage theilte mir Koelliker mit, daß er wahrscheinlich nicht nach Wien und Triest, sondern nach Nizza, gehen würde und forderte mich nun nur um so herzlicher und dringender auf, ihn nur um so mehr nach diesem noch weit interessanteren Ort zu begleiten. ||

Ich war anfänglich sehr überrascht, da ich an Nizza eigentlich gar nicht ernstlich gedacht hatte, indem mir eine Reise dorthin als viel zu weitgreifend und großartig vorgekommen war. Je länger ich mir aber nun jetzt die Sache überlegte, desto reizender und vielversprechender erschien mir jetzt der Koellikersche Plan und Vorschlag und als ich endlich noch einmal Vogts „Ocean undnd Mittelmeer“ durchflog, war bald mein Plan sicher gefaßt. Das letztere Buch ist in der That sehr dazu geeignet, Jedem Leser, auch wenn er nicht von vornherein so enthusiastisch für Natur schwärmt, wie ich, die größte Lust nach diesem Paradiesgarten Europas und in specie diesem ausgesuchten Sammelplatz seiner auserwähltesten und mannichfaltigsten Seebestien, zu erwecken. Um so mehr mußte es natürlich mit seinen reizenden zoologischen Naturschilderungen auf mich den größten Eindruck machen und schon, als ich es vorigen Winter zum erstenmal in die Hände bekam und wiederholt nach einander durchlas, erregte es in mir eine solche Sehnsucht nach diesem reizendsten, der prächtigsten Naturwunder vollsten Punkte der Mittelmeerküste, daß ich es als das größte Glück ansah, wenn es mir einmal später vergönnt sein sollte, dort einige Zeit zu beobachten und zu forschen. Eine nahe Verwirklichung dieses Wunsches ahnte ich natürlich nicht, und deßhalb erschien mir auch jetzt, als nun wirklich die Erfüllung desselben gelingen zu wollen schien, diese Realisation so problematisch, daß mir in den ersten Tagen das Ganze als ein schöner Traum erschien. Erst ganz allmählich mußte ich meine Gedanken daran gewöhnen und meine Pläne für die Herbstferien, welche ich hier ganz ausharren zu müssen geglaubt hatte, danach umgestalten. ||

Wenn die Dinge so zur Ausführung kommen, wie sie jetzt in unserm Plane liegen, so werde ich etwa am 8. oder 9. September von hier abreisen, über Frankfurt, Basel, Bern nach Vevay gehen und dort Kölliker, der schon in 8 Tagen dorthin abreist, abholen. Von da wollen wir über den Sankt Bernhard oder Mont Cenis nach Turin, und über den Col di Tenda nach Nizza gehen, wo wir etwa 4 Wochen mikroscopiren werden. Von da gehen Koelliker und Heinrich Mueller dann nach Paris, während ich meine Rückreise über Genua, Novara, Lago Maggiore, Splügen, Chur, Bodensee, Augsburg etc einzurichten gedenke. Wie Jammerschade, daß mich der Zeitmangel zwingt, die herrlichen Schweizergegenden nur so im Fluge zu durcheilen. Wie schön und bequem ließe sich mit dieser Route eine köstliche Schweizerreise verbinden! Doch das geht nun einmal leider nicht und ich muß mir dies Vergnügen für eine spätere Zeit aufsparen! –

Doch ich sehe mit Schrecken, daß ich wieder ganz in meine alte Schwärmerei zurückfalle und da von Dingen rede, die noch in weiten Feldern liegen. Vielleicht geht Kölliker und Müller doch nach Wien und Triest; möglicherweise (und das gewiß zum Nutzen meiner pathologisch anatomischen Studien!) unterbleibt das Ganze und ich habe dann die große Vorfreude ganz gratis gehabt (auch etwas Schönes!) doch in 8 bis höchstens 14 Tagen muß Alles entschieden sein und mein nächster Brief wird euch die sichere Nachricht bringen. Vorläufig kann ich euch inzwischen wegen des Geldpunkts, der mir Anfangs sehr große Sorgen machte, noch etwas beruhigen. || Koelliker und namentlich H. Mueller selbst, der schon mehremal in Nizza war, haben mich versichert, daß das Leben im Sommer dort relativ sehr billig sei, 1 fr für das Zimmer, 2–3 fr für die Beköstigung täglich, also gegen 1 rℓ, was im Ganzen noch bedeutend billiger als Helgoland sein würde. Erst im Winter (von November an) wo Nizza von einem Heere schwindsüchtiger Engländer überschwemmt wird, wird es sehr theuer. Die Hauptkosten würden daher auf die weite Hin- und Rück-reise fallen. Doch ihr wißt, daß ich hierin so wenig üppig und verwöhnt bin, und mich so einschränken kann, als man es von einem aller eignen Mittel baaren deutschen Studenten nur verlangen kann. Summa summarum würde die 6 wöchentliche Reise danach höchstens auf gegen 150 rℓ kommen. Doch kann ich euch darüber noch Näheres schreiben. Sollte euch diese Summe zu groß vorkommen, so bitte ich euch zu bedenken, liebste Eltern, daß dies wohl auf mehrere Jahre die letzte Reise sein wird, die mir vergönnt ist, indem nächstes Jahr das Staatsexamen, 1858 das Militärjahr mich an Berlin fesseln wird. Auch verspreche ich euch, durch möglichst sparsames und eingeschränktes Leben in Berlin, wo ich mit dem größten Vergnügen auf alle Vergnügungen verzichten werde, diese große Ausgabe möglichst wieder einzubringen. Endlich ist auch zu berücksichtigen, daß, c ganz abgesehen von den ganz außerordentlichen Naturgenüssen und zoologischen Freuden, die mir die Reise bringen wird, der Nutzen für meine speciell wissenschaftliche und vergleichend anatomische und histologische Ausbildung ganz ungeheuer sein und zu den relativ geringen angewandten Mitteln in gar keinem Verhältniß stehen wird. || Daß es mir nun noch dazu vergönnt sein soll, von meinem weitberühmten und hochverehrten Lehrer Koelliker in dies zoologische Paradies eingeführt zu werden, ist ein Glück, das mir in dieser Weise nur dies einemal blühen kann und das mir eben so ganz unerwartet, als höchst erwünscht gekommen ist. Doch jetzt genug davon! Ich gerathe sonst wieder in Gefahr, enthusiastisch zu schwärmen, und von Dir, lieber Vater, eine Nase für meine Neigung zu Extremen zu bekommen. Was diese letzteren anbetrifft, so muß ich Deinen Bemerkungen darüber allerdings vollkommen Recht geben. Nur glaube ich, daß die Sache, nämlich meine sehr geringe Neigung zur goldnen Mittelstraße, vorläufig, d.h. für meine Entwicklungsjahre (etwa vom 20–25sten) auch ihre guten Seiten hat. Wenigstens sehe ich, daß d gar viele meiner Bekannten, die sich immer höchst sorgfältig dieser Mittelstraße befleißigen, auch sehr mittelmäßige Leute werden, und nur Mittelmäßiges leisten. Andererseits glaube ich, daß ich die glückliche Richtung, in welche ich in letzter Zeit hineingekommen bin und auf der ich jetzt mit wissenschaftlichem Bewußtsein mich weiter auszubilden fortfahren kann, zum großen Theil auch dem gewiß oft extremen und einseitigen Enthusiasmus, der Intensitaet verdanke, mit der ich Sachen, die mich wirklich interessiren, aufnehme und verfolge. Freilich ist auch viel Verfehltes bei diesen Einseitigkeiten und Virchow lächelt nicht mit Unrecht, wenn er mich „den enthusiastischen“ statt „den nüchternen“ Beobachter nennt. Übrigens bin ich e gegen die Fehltritte, welche solche Schwankungen von Extrem zu Extrem gar zu leicht mit sich bringen, durch die feste Richtung, welche ich eurer consequenten, sittlich religiösen Erziehung, liebste Eltern, verdanke, mehr als viele Andre geschützt! – ||

Auf euren Besuch freue ich mich ungeheuer. Wie nett wollen wir uns da gegenseitig ausplaudern! Übrigens schadet es gar Nichts, wenn ihr auch die letzten Tage vor meiner Abreise kommt. Im Gegentheil können wir uns dann um so besser darüber aussprechen. Von sämmtlichen Bekannten ist jetzt nur noch mein liebenswürdiger Beckmann hier, mit dem ich mich jetzt so herzlich freundschaftlich stehe, als es unsere große Verschiedenheit nur irgend erlaubt. Die übrigen sind, wie überhaupt die meisten Studenten, schon Ende letzter Woche abgereist. Diese Woche wird jedenfalls Alles geschlossen. Anfang der nächsten wird Virchow auf einige Wochen nach Berlin gehen und ich dann das Imperium der Anatomie übernehmen. Viel hat zu diesem frühen allgemeinen Schluß das außerordentlich heiße Hundstagwetter beigetragen, das wir hier seit 14 Tagen haben und das wirklich alle Lust und Fähigkeit zur Arbeit benimmt.

Mich hat auch diese Hitze im Verein mit den Reiseträumen sehr faul und arbeitsscheu gemacht. Übigens gabs grade in den letzten Tagen außerordentlich viel zu thun, täglich 3–4 Sektionen, am Montag (gestern) selbst 5! Die chirurgischen Kranken, die größere Wunden haben, sterben bei solchem Wetter, wie die Fliegen, weg. Am Samstag hat Virchow zum letzten Mal in der physikalisch-medicinischen Gesellschaft vorgetragen. Sein vermuthlicher Nachfolger (paradoxer Weise ein Jünger der extrem entgegengesetzten Wiener Schule!) Dr. Lambl aus Prag, ist jetzt hier. Doch nun genug von hier. Den nächsten Brief werde ich wohl nach Bonn schicken, wohin ihr ja etwa den 16ten oder 17ten kommen werdet. An Onkel und Tante in Aurich die herzlichsten Grüße. Wie gerne sähe ich die lieben alten Leute einmal wieder! – Voll Freude auf euer Kommen euer

alter Ernst.

N. B. Zur Beruhigung von Mutterchen füge ich bei, daß ich seit der Colicattaque wieder vollkommen gesund bin, und nur wünschen kann, daß sie sich eben so wohl und munter fühlt.f

a eingef.: ich; b gestr.: sich; c gestr.: mit; d gestr.: d; e gestr.: ich; f Briefschluss auf dem linken Seitenrand: N. B. Zur Beruhigung … munter fühlt.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
04.08.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37524
ID
37524