Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 10./11. Januar 1853

Würzburg 10/1 1853.

Montag Abend 10 Uhr.

Meine geliebten Eltern!

So eben komme ich aus der medicinisch-physikalischen Gesellschaft wo ich einen sehr interessanten Vortrag von Kölliker gehört habe, und finde euren sehnlichst erwarteten Brief, für den ihr den herzlichsten Dank haben sollt. Der Vortrag Köllikers bezog sich wieder auf die Reise nach Sicilien, die er in den letzten Herbstferien mit Prof. H. Mueller und Dr. Gegenbauer von hier unternommen hatte, und zwar diesmal auf eine Excursion, welche sie auf den Etna, während der letzten Eruption desselben (von der wir auch in Teplitz in den Zeitungen lasen) gemacht hatten. Er zeichnete dabei zur Orientirung nebenstehenden Plan.

Zaffarana ist das letzte Dorf dort, in welchem sie eben angelangt waren, als eine ungeheure Masse Neugieriger, mit allen möglichen Vehikeln, Maulthieren, Wagen, Eseln, Pferden u.s.w. dort in der größten Bewegung war, um das seltne Naturwunder in Augenschein zu nehmen. Es war nämlich seit ein paar Tagen in Folge der Eruption 2er Seitenkegel des Etna ein Lavastrom von etwa 4 Stunden Länge und 40 Minuten – ½ Stunde Breite in dem Ochsenthal (Val del bove) einem kleinen Seitenthale des Bergs heruntergeflossen, hatte sich in 2 Arme getheilt und der eine war bis auf 10 Minuten an das Städtchen herangekommen, dann aber stillgestanden und erkaltet. Der andere nördliche, a den sie zunächst ganz in der Nähe besuchten und sich ansahen, war dagegen noch in stetem Vorrücken begriffen, obwohl auch er schon im Absterben begriffen war. || Die Lava war bereits nicht mehr flüssig, aber noch durch und durch rothglühend, und aus einer Masse Blöcke, von der Größe eines Hauses bis zu feinen Aschenmassen, zusammen b gewürfelt. Das untere Ende des Stroms war auch hier schon schwarz geworden, aber noch sehr heiß; von Zeit zu Zeit öffneten sich dann große Spalten, aus denen eine glühende Masse mit großer Gewalt hervorströmte, die aber gleichfalls nicht mehr flüssig war, sondern aus rothglühenden, meist hausgroßen, und darüber, Lavablöcken bestand, welche dann in riesigen, weiten Sätzen im Thal heruntersprangen und alle Gegenstände z. B. hohe Bäume, auf welche sie trafen, im Sturze zerschmetterten und anzündeten, wobei das bläulichweiße Licht der letztern schön mit dem pupurnen Glühen der Lava contrastirte. So zeigte sich hier das merkwürdige Phänomen, das c sehr an das Fortrücken der Gletscher, und noch mehr an das der Gerölllawinen in der Schweiz erinnert, daß der Lavastrom, obwohl nicht mehr flüssig, doch in stetem Herabfließen, wenn auch langsam und sprungweise, begriffen war. (Kölliker zeigte uns auch ein großes Stück solcher Lava, das er glühend aufgehoben und an dem er seine Cigarre angesteckt hatte. Es war jetzt sehr schwer, hart, kohlschwarz und von deutlich kristallynischem Gefüge, dabei noch von eigenthümlichem Geruch). Natürlich bekamen sie nun auch Lust, die beiden feuerspeienden, noch immer in Thätigkeit begriffenen Krater, aus denen dieser Lavastrom hergeflossen kam, zu sehen und in der Nähe zu untersuchen. Trotz aller Widerreden der Bevölkerung, die ihnen dies Unternehmen als tollkühnes und lebensgefährliches Wagniß || darstellte, überredeten sie doch einen Arzt und den protestantischen Geistlichen aus Messina (einen geborenen Hessen) sie zu begleiten und so machten sie sich eines schönen Abends nach 10 Uhr in Begleitung 2er Führer auf, um einen Gipfel zu erklimmen, der vor den Kratern gelegen, aber noch viel höher, als diese war. Schon um 1½ Uhr hatten sie diesen glücklich erreicht, sich dabei aber von Hast und Ungeduld trotz des schrecklich steilen und ungangbaren Weges, über lauter Felsblöcke und Lavafelder hin, oft fast senkrecht in die Höhe kletternd, so übereilt und zu wenig Zeit genommen, daß sie oben fast ohnmächtig zusammensanken. Dafür wurde ihnen aber auch, als gerechter Lohn solcher Anstrengungen, ein Schauspiel zu Theil, wie dies nur wenige genossen haben. Als sie nämlich den letzten steilsten Gipfel, den Monte Cassone erklommen, während dessen sie schon fortwährend einen beständigen fernen Donner gehört, und den ganzen Himmel von Glut geröthet gesehen hatten, erblickten sie nun plötzlich zu ihren Füßen, ungefähr ¼, allerhöchstens ½ Stunde entfernt, die beiden neu entstandenen ziemlich niedern Kratern, welche in der lebhaftesten Thätigkeit begriffen waren, dicht nebeneinander. Aus dem größerend erhob sich, wie ein glühender Springbrunnen, eine riesige, schlanke Feuersäule ungefähr 500–600 Fuß hoch, wie sie aus den emporgeschleuderten großen Massen schließen konnten, welche 7–8 e Secunden || brauchten, um wieder niederzufallen. Aus dem kleinen, vom Etna selbst entfernteren Krater, welcher unmittelbar neben dem größern stand, erhob sich gleichfalls senkrecht eine prachtvolle, weißglühende Feuergarbe, welche aber etwas niedriger und bedeutend breiter war; beide schleuderten riesige Massen mit sich empor, erleuchteten den ganzen Himmel, so wie alle umliegende Gegenden, auf höchstwunderbare Weise und verursachten ein lautes Getöse, das abwechselnd einer Reihe heftiger plötzlich auf einander folgender Kanonenschläge, und dann wieder dem Toben und Zischen der wildesten, durch Sturm gepeitschten Brandung glich. Außerdem floß aus beiden Kratern ein glühender, breiter, wirklich geschmolzen flüssiger Lavastrom herab, der sich weiter unten vereinte, und die das Thal schon halb erfüllenden, erstarrten Massen vor sich hertrieb. Übrigens waren weder an diesem Lavastrom, noch an den überaus prachtvollen Feuersäulen, die sich am ersten noch einem feurigen, colossalen und starken Springbrunnen vergleichen ließen, irgend eine eigentliche Flamme, etwa entstanden durch das Verbrennen von Gasen oder andern Eruptionsstoffen zu sehen; das Ganze war nur einef homogene, weiß- und rothglühende Masse. Leider mußten sie nach einer Stunde schon, dem einzigen, erhaben-großartigen Schauspiel Adieu sagen, weil ihre Führer nicht länger in so gefährlicher Nachbarschaft verweilen wollten, und konnten so keine weitern Untersuchungen anstellen; wahrscheinlich sind sie die einzigen Reisenden gewesen, welche diese Eruptionen damals beobachtet haben. Ach Gott, wer doch einmal so ein Glück hätte! – ||

Dienstag früh.

Gestern Abend war ich zu müde, um meinen Brief fortzusetzen und ließ auch meine Phantasie zu sehr in den herrlichen Gemälden schwelgen, die Kölliker uns so verführerisch hingestellt hatte. Was ich euch übrigens da von seiner Erzählung mitgetheilt habe, sind nur einige trockne Data, gleichsam das Gerüste, auf dem er seine herrliche, höchst anziehende Schilderung ihrer Excursion erbaut hatte. Auch sein Kolleg war in dieser Woche ganz prächtig, indem er mit der größtmöglichsten Ausführlichkeit (12 Stunden) die mikroscopisch-anatomischen Verhältnisse der Leber abhandelte, wohl das interessanteste Kapitel der Eingeweidelehre und mithin der ganzen Anatomie. Die Leber gleicht nämlich in ihrem ganzen Bau sowohl, als ihren Lebensfunctionen und der Art ihrer Thätigkeit ganz auffallend einer Pflanze! während sie von allen andern thierischen Drüsen durchaus verschieden und ganz eigenthümlich ist. Es ist wirklich höchst merkwürdig! –

Heute früh vor 8 Tagen erhielt ich zu meiner größten Freude und Überraschung noch das Kistchen aus Ziegenrück, das der Briefträger noch g in der alten Wohnung, und zwar ohne Adresse, abgegeben hatte, was ich ganz zufällig im Kolleg durch meine frühern Hausburschen erfuhr, worauf ich natürlich eiligst hineilte, um mich als rechtmäßigen Eigenthümer zu legitimiren. Es enthielt außer verschiedenem selbstgebackenem || kleineren Naschwerk eine sehr schöne, gewürzige, gleichfalls selbst gebackne Stolle, die mir jetzt zum Kaffee täglich ein treffliches h Frühstück liefert und lebhaft an die schöne alte Zeit in Merseburg erinnert, wo die Weihnachtsstollen, wie Milch und Honig, flossen.i Karl schreibt mir auch, daß ihm Mimmi die neue illustrirte Prachtausgabe vom Faust geschenkt habe, worüber ich mich natürlich, zum Theil aus sehr egoistischem Interesse, sehr gefreut habe. Den Brief von Adolph Schubert haben sie nicht mitgeschickt. Aus eurem vorigen Brief, den der Briefträger, wie auch den gestrigen, ziemlich spät erst abgegeben hatte, habe ich ersehen, daß ihr das Weihnachtsfest recht nett und fröhlich im Familienkreise verlebt habt; nun wird es wohl wieder stiller und einsamer geworden sein. Sehr leid thut es mir, daß mein Brief nicht Heiligabend eingetroffen ist, wie ich es so hübsch glaubte berechnet zu haben. Die Posten gehen doch sehr unregelmäßig. –

Mit dem dritten Theil vom Kosmos verhält es sich allerdings so, wie Du, lieber Vater, schreibst. j Karl hatte ihn erst von D. Reimer geholt, und dann noch einmal zum Einbinden (zusammen mit der ersten Abtheilung des dritten Theils, die wir schon vorher in Merseburg gekauft hatten) hingebracht, woraus wohl der Irrthum entstanden ist, daß wir 2 Exemplare genommen hätten! –

Dein Gespräch mit dem jungen Schlagintweit ist gewiß sehr interessant gewesen und ich beneide dich darum; es sollen beides sehr tüchtige Physiker sein. – ||

Gestern vor 8 Tagen, am Montag den 3ten, war die Stiftungsfeier der Universität, welche im Jahre 1582 von dem Stifter des Juliushospitals, Bischof Julius Echter von Mespelbrunn gegründet worden war. Es wurden die Bearbeitungen der Preisaufgaben des vorigen Jahres bekannt gemacht. Die theologische und juristische waren gar nicht bearbeitet worden; die einzige Abhandlung, welche mit einem Preise gekrönt wurde, war eine medicinische: „Über die Lehre vom Soor des menschlichen Körpers“ –

Dann hielt der alte Rector, Dr. Hoffmann, Professor der Philosophie, eine Rede über die „Bedeutung der Facultäten für die Entwicklung der Wissenschaft“, die mir sehr gefallen hat, und die du auch noch erhalten sollst. Er faßt darin hauptsächlich das Verhältniß der Philosophie zur Theologie ins Auge, und beweist, daß allein ein auf k tiefsinnigen Christianismus gegründetes System des Theismus, wie es erst in neuster Zeit von Franz Baader (N.B. Ich hatte den Namen noch nie gehört!) mit viel Glück, aber wenig Anerkennung versucht worden sei, für die Philosophie und die Menschheit selbst von wahrem Heil sein könne, und auch das allein Rechte und Wahre sei. Namentlich beweist er von Anfang bis Ende die Inconsequenz und Nichtigkeit des Spinozismus, obwohl man dem Stifter dieser Schule selbst seine Achtung nicht versagen könne. Hegel und Fichte, sowie Schelling, selbst Kant werden auch nicht als consequent und unbefangen betrachtet. Was mich noch am meisten in der Abhandlung, || die mir ihrem größten Theile nach ganz richtig und gut zu sein scheint, frappirt hat, ist, daß er Schleiermacher mit den oben genannten Pantheisten zusammenstellt, und ihm einen idealistischen Pantheismus (!) zuschreibt, während er allerdings zugiebt, daß die großen und bedeutenden Schüler desselben nicht auf dem Boden des Pantheismus stehen geblieben seien, wie auch von jenen andern Schelling selbst sich noch bis zum Theismus erhoben habe, und dies fastl von allen Schülernm derselben in der Neuzeit mehr oder weniger gelten könne. Die Haupttendenzn ist, wie gesagt, Widerlegung des Pantheismus.

– In Bezug auf Deine jetzigen geschichtlichen Studien über die Juden wirst Du, lieber Vater, auch ein Paar hübsche Karten im ethnographischen Theil von Berghaus finden, wo man sieht, wie dies sonderbare Volk wirklich all und überall auf der Erde zerstreut ist. –

Was Du mir über den Werth und die Bedeutung über die Allmacht, und den großen Einfluß schreibst, den das Christenthum auf unsre jetzige hohe Culturstufe ausübt, und zu deren Erreichung es beigetragen, so bin ich damit vollkommen einverstanden. Noch am Sonntag Abend las ich in dem Hieckeschen Lesebuch für obere Gymnasialklassen auch einen ganz vortrefflichen Aufsatz, in dem das nämliche Thema berührt wurde. (Überhaupt enthält diese Hieckesche Sammlung einen wahren Schatz der trefflichsten Aufsätze, die auch Dich sehr interessiren werden, und die Du noch lesen mußt. Für Gymnasien sind sie meiner Ansicht nach noch zu schwer!) [Briefschluss fehlt]

a gestr.: war; b gestr.: gefüllt; c gestr.: noch; d gestr.: kleineren; eingef.: größeren; e gestr.: Minute; f gestr.: ,; g gestr.: an; h gestr.: alt; i gestr.: M; j gestr.: Wir; k gestr.: s; l eingef.: fast; m korr. aus: Schüllern; n korr. aus: Hauptdtendenz

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
11.01.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37454
ID
37454