Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 8. Dezember 1852

Berlin 8 December 52.

Mein lieber Ernst!

Ich komme eben aus der Stadt zurük, wo ich meine Pension geholt habe und also wieder Geldvorrath vorhanden ist. Das kommt gerade zur rechten Zeit, da Du in Geldnoth bist. Befolge nur alles, was Dir Mutter über Oekonomie und Quartier etc. geschrieben hat. Noth sollst Du nicht leiden und Dich auch nicht zu sehr von den Menschen zurükziehen. Der Umgang mit Menschen thut grade Dir sehr noth. –

Was die Politik betrift, so nehme ich mich möglichst zusammen. Aber es geht jetzt so her, daß alle vernünftigen irgenda unbefangenen Männer über den jetzigen Gang der Dinge empört sind. Ruhiger werde ich allerdings immer wieder, wenn ich mich auf den historischen Standpunkt stelle. Wir vermißen unsere Kinder jetzt gewaltig und haben seit Ende October im Ganzen sehr still und zurükgezogen gelebt. Vater und Bertha sind unser täglicher Umgang und auch bei ihnen geht es sehr ruhig zu. Dazu kommt dies ganz traurige Wetter, fast nichts als Nebel, Regen und Frost. Dazu fallen meine Spatziergänge fast immer in die finstern Stunden (von halb 5 bis halb 7 Uhr). Auch habe ich wenig gelesen, da ich viel mit Oekonomicis beschäftigt gewesen bin. So ist uns also die Zeit ziemlich einförmig und traurig vergangen und wir sehnen uns recht nach frischer heller Witterung. Seit 14 Tagen haben wir aus Ziegenrück keine Nachricht. Carl wird wohl viel Arbeit haben, bis er in Ordnung sein wird und Mimi noch sehr mit der häuslichen Einrichtung beschäftigt sein. –

Da Du Kants [Werke] so wohlfeil haben || kannst, so schaffe sie nur an, vorausgesetzt daß die Ausgabe auch treu und richtig ist, wornach Du Dich noch näher erkundigen magst. Wenn man sich auch auf sein Hauptwerk, die Critik der reinen Vernunft, nicht einlaßen will, da dies zu viel Zeit kostet, so sind doch sehr viel hübsche Schriften unter seinem Werken, z. B. seine Theorie des Himmels (Entstehung der Weltkörper), seine Antropologie, die Critik der Urtheilskraft etc. Es b herrscht durchaus ein erhabener sittlicher Sinn in seinen Schriften. – Mit Mutter habe ich jetzt gelesen und lese noch Colombo‘s Entdeckung von America. Papa kann an den langen Abenden nicht lesen, sondern nur am Tage, so daß Mutter öfters schon gegen 6 bis 8 Uhr herum [hingeht,] um Tarock zu spielen. Ich komme erst nach 7 Uhr vom Spatziergang, schreibe dann Briefe und lese dann und eße Abendbrod von 8 bis halb 10 Uhr, wo wir noch auf eine Stunde zum Großvater gehen. Seine körperlichen Kräfte laßen doch nach, geistig ist er für seine Jahre noch munter genug. Der Vormittag ist jetzt sehr kurz, da es vor 9 Uhr kaum Licht wird und wir erst gegen halb 8 Uhr aus dem Bett kommen. Mit einem Wort: Die Jahreszeit ist sehr unangenehm, da fast alles bei Licht und in der Nachtzeit abgemacht werden muß und wir sehnen sie uns alle sehr nach längeren Tagen und frischerem, heiterem Wetter, da das jetzige so trübe stimmt, wozu noch kommt, || daß das fanatische Partheiwesen der Junker sehr störend auf die Geselligkeit wirkt, indem bei der wachsenden innern Erbitterung jeder allen Umgang zu meiden sucht, durch den er nur irgend mit diesem Wesen in Berührung kommen kann. – Großvater hat Kants Werke nicht, er meinte, das tiefere Studium der Philosophie habe zu viel Zeit gekostet! Sonst ist es bewundernswerth, was der Mann alles gelesen hat und mit welch frischem Geiste. – Heute begegnete ich Max Henkel, er ist ganz liberal und ärgert sich auch über die jetzigen Vorgänge. Sein Vater wird erst zu Ostern herziehen.

Nun mein lieber Ernst bleibe gesund, gräme Dich nicht innerlich über Deine Zukunft ab, das wird sich alles zu seiner Zeit aufklären. Trägst Du auch das Pflaster fortdauernd? Thue das ja, es wird Dir gewiß sehr gut thun.

Dein

Dich liebender Vater

Haeckel

a eingef.: irgend; b gestr.: ist

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
08.12.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 36065
ID
36065