Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst und Anna Haeckel, Berlin, 6. November 1862

Berlin 6 Novemb. 62.

Mein lieber Ernst!

Deinen Brief nebst Beschreibung Eurer Wohnung haben wir erhalten und sie auch den Freyenwaldern mitgetheilt. Ihr wohnt ja recht hübsch und das ist ja recht schön, denn eine unangenehme Wohnung macht das Leben ungemüthlich und trübselig. Ich empfinde das recht in unserer jetzigen in Betreff unsrer vorigen, die uns zuletzt unangenehm geworden war, während uns die jetzige freundliche wegen ihrer angenehmen Lage sehr convenirt, wenn sie auch etwas eng ist. – Wir sind nun recht in das November Wetter hineingerathen, trübe und regnerisch. Die langen Abende wollten mir im Anfange gar nicht gefallen, und es hat ordentlich schwer gehalten, mich darauf einzurichten. Dazu kommt, daß meine Beine diesen Herbst gar nicht so fort wollten wie früher. Der 81 jährige Alte muß ein paar Löcher zurük steken. Auch fühle ich immer mehr das Bedürfniß, Abends wenigstens von 7 Uhr ab zu Hause zu sein, mit Mutter zu lesen, zu schwatzen und ein Spielchen zu machen. Meine Morgen Promenaden habe ich von 8-9 Uhr mit Kühne bisher fortgesetzt. Bei der Kürze der Tage werden sie wohl allmählich aufhören. Komme ich früh vom Spatziergange, dann bin ich müde und lege mich aufs Sopha, schlafe ein wenig und lese oder schreibe dann. Die Beschäftigung des Geistes ist mir Bedürfniß, ich recapitulire dann, was mir eben durch den Kopf geht und suche darnach meine Lektüre aus. So habe ich Ritter über Mesopotamien durchgelesen, bin dadurch in die Bibel und das alte Testament gekommen, habe Alexanders Eroberung durch Vorderasien recapitulirt und über Gott und Welt über die Entwikelung des Geistes Gottes in der Geschichte meine Betrachtungen gemacht: Wir sind denn doch jetzt ein gutes Stük weiter als die Alten, die Anerkennung der Rechte der Menschheit hat sich Bahn gebrochen und uns weiter gebracht und dieses haben wir wieder dem Christenthum zu danken, welches durch die Gleichheit der Menschen vor Gott und durch den alles durchwehenden Geist der Menschenliebe ganz andre Ansichten unter die Menschen gebracht und sie darin herrschend gemacht hata, so daß, wenn man die alte Geschichte liest, und die jetzige Zeit damit vergleicht, man erst den ungeheuren Unterschied zwischen damals und jetzt anerkennt. Die griechischen Philosophen sind weit vorgedrungen und haben schon die Einheit Gottes geahnt. Aber es istb dieser Philosophie nicht möglich gewesen, die völlige Durchdringung des Göttlichen durch alle Lebensverhältniße so zu bewirken, wie es das Christenthum besonders seit der Reformation gethan hat. Wenn man hier sieht, wie die Weltgeschichte Jahrtausende braucht, um eine Idee zu entwikeln, so lernt man Geduld, wenn man sieht, wie sich der Fortschritt nur in langsamen Krümmungen fortbewegt. Aber freilich wenn man jung ist, so will man noch etwas erleben und mit durchmachen helfen, während manc im Alter auf den Weg zurük sieht, den man schon zurükgelegt hat und dabei wahrnimmt, dass es doch ein gut Stük vorwärts gegangen ist und dass gewiße Dinge sich trotz alles Gegenwirkens doch mit einer eisernen Nothwendigkeit hervor und durchdringen. Dieses Gefühl habe ich wenn ich die letzten 40 Jahre überschaue. Was noch vor 40 Jahren möglich war, würde jetzt in vieler Hinsicht jetzt seinen baldigen Untergang finden. Es geht jetzt in mancher Hinsicht sehr elend, aber man muß nur nie vergessen, daß die Weltgeschichte nicht nach einzelnen Jahren, sondern nur nach Generationen rechnet und daß auch viele Misgriffe von Seiten der Machthaber gemacht werden müßen, damit die vordringende Wahrheit sich recht geltend machen kann, daß auch die Völker nur langsam durch vielfältige Kämpfe erzogen werden und daß ohne Kämpfe sich diejenigen Kräfte nicht entwikeln können, welche das neue Leben bringen müßen. Da treten dann freilich einzelne Momente zum Verzweifeln ein. Aber man wird wieder ruhiger, wenn man den Entwiklungsgang der Geschichte im Ganzen verfolgt. ||

Wäre nicht die Jahreszeit schon zu weit vorgeschritten, die Tage zu kurz und die Witterung zu unsicher geworden, so wäre ich noch zu Euch gekommen um Euch in Eurer neuen Wirthschaft und in Eurem ehelichen Zusammenleben zu sehen. So muß ich nun dieses zum Frühjahr versparen; wir hoffen Euch aber gewiß auf Weihnachten 8 Tage bei uns zu haben. Mutter Minchen wird morgen von Freyenwalde hieher kommen, einige Tage hier bleiben und dann nach Frankfurt in ihr Winterquartier gehen. Wir leben hier sehr still und zurükgezogen, gegen Abend besuche ich wohl Bekannte, komme dann aber nach 7 Uhr zur Mutter zurük. Bertha ist beinah seit 14 Tagen in Halle und Leipzig und wird wohl dieser Tage auch zurükkehren.

‒ Daß Wilhelm Bleek als Bibliothekar in der Cap Stadt nunmehr ein festes Unterkommen gefunden, hat mich sowohl seines als seiner Mutter und liebenswürdigen Braut wegen ungemein gefreut. Wie er auch sein mag, er hat sichs doch sauer werden laßen und genießt bereits als Kenner der südamerikanischen Sprachen in der gelehrten Welt einen bestimmten Ruf. – Daß Deine Freunde Max Schulz und Leyden Deine Arbeit gut gefunden haben, hat mich sehr gefreut. Sie muß sich nun durchkämpfen und Du hast nun Zeit gewonnen, Deine Studien anderweit umsonst wieder fortzusetzen. – Ich möchte wohl sehen, wie Du mit Deiner kleinen Frau in Eurer Häuslichkeit zusammen lebst und habe nun schon einen andern Respekt vor Dir, seitdem Du Ehemann geworden bist, als früher als Du Dich noch allein herumtriebst. Daß Euch Gott in eine schöne Natur versetzt hat, ist auch ein großes Gut. Ich bin die 3 Wochen in Schlesien durch den Genuß der schönen Natur ganz glüklich gewesen und kann es kaum erwarten, Dich und Anna dort hin zu führen und einige Wochen mit Euch dort zusammen zu sein.

Ich lese kaum die Zeitungen, so sehr ekeln mich die jetzigen politischen Zustände an, lebe aber doch der Ueberzeugung, daß dieses nur nothwendige Durchgangspunkte sind, denen man sich nicht entziehen kann.

Der vorstehende Brief ist auch für Anna geschrieben, die ich aufs herzlichste grüße.

A Dieu meine lieben Kinder

Euer Alter Hkl

a eingef.: hat; b eingef.: ist; c eingef.: man;

 

Letter metadata

Datierung
06.11.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36051
ID
36051