Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 20. September 1855

Berlin 20

Sptmb. 55

Lieber Ernst!

Vor einigen Tagen haben wira Deinen Brief aus Botzen vom 12. September erhalten und zwar den 5ten Tag. Deine Briefe hieher gehn gut, auch die Pflanzen sind richtig angekommen, Mutter hat sie schon alle gelegt. Aber daß die Briefe an Dich so schlecht gehen, ist sehr zu beklagen. 1 nach Berchtesgaden, 2 nach Meran, 1 nach Venedig. Dieser soll Dich in Insbruck treffen. Mit großer Freude haben wir aus Deinen Briefen ersehen, welche herrlichen Naturgenüße Dir zu Theil geworden sind. Das müßen ja wirklich Labsale für Dich gewesen sein und daß Du Dich dabei körperlich und geistig so herrlich entwikelst, ist ja eine vortreffliche Sache. Sterzing, den Jauffen, St. Leonhard, Meran habe ich alles selbst gesehen. Daß die Pracht der Oetzthal Gletscher so nahe liegt, habe ich nicht gewußt. Dazu hat noch Gott so unmittelbar über Dir gewacht, daß Du nicht verunglükt bist!! Nun wir haben ihm inbrünstig gedankt und beten täglich zu ihm, daß er Dich erhalten und beschützen möge. Freilich gehn in dem Beruf, den Du vor Dir hast viele [zu] Grunde wie z.b. ganz neuerlich der b junge Schmidt in Norwegen (s. unten) aber Gott hilft doch auch vielen durch. So ist denn doch Bahrdt wirklich wohlbehalten in Europa angekommen. Die Gebr. Schlagintweit setzen ihre Reise in Ostindien munter fort und der alte Humbold hat sein 86stes Jahr zurükgelegt. Und so setze nun mit Vertrauen Deinen Weg ruhig fort. Vielleicht hilft Gott. –

Die südliche Natur unmittelbar auf die Gletscherwelt muß sich wunderbar ausnehmen, und jetzt wirst Du nun auch c die Ueberbleibsel einer historisch merkwürdigen Vergangenheit gesehen haben (Venedig.)d. Carl war damals ganz davon entzükt, und Mailand wird Dir auch gefallen haben. Ich schrieb Dir in den früheren Briefen: Du möchtest doch vor dem Ende der Ferien noch zu uns kommen, da Mutter sich sehr nach Dir sehnte und in ihrer Krankheit diese Freude sie sehr aufrichten würde, auch für uns Deine ausführlichern Erzählungen über Deine Reise sehr intereßant sein würden. Allein ob Du diese Briefe erhalten haben wirst, ist eine andre Frage, da merkwürdiger Weise unsre Briefe nach Meran, die doch nahe am großen Kurs liegen, noch nicht angekommen sind. –

Jetzt ersehen wir nun aus Deinem Briefe, daß Du Ende dieses Monats oder ein Paar Tagee später in München anzukommen gedenkst, Dich dort aufhalten wirst und dann damit Deine Reise zu beschließen gedenkst. Wir wollen Dir nun anheimgeben, ob Du etwa lieber zu Weihnachten zu uns kommen willst? wo Du Carl und die Seinigen bei uns finden würdest oder ob Du es vorziehst, jetzt zu Michaelis zu uns zukommen? Einmal müssen wir Dich sehen, um doch etwas Ausführliches über die Reise zu hören, und Mutter will nicht bis Ostern warten, Dich zu sehen. Faße also Deinen Entschluß und gieb uns bald Nachricht. –

Mutter hat über 3 Wochen die Sassa parilla gebraucht, eine Schwitz- u. Abführkur bei sehr strenger Diät. Sie hat über 4 Wochen in der Stube steken müßen. Gestern ist sie wieder das 1ste Mahl ausgegangen. Ihr Zustand hat sich sehr gebeßert, der Ausschlag hat sehr abgenommen, im Gesicht und Kopf ist er am hartnäckigsten, aber auch diese haben sich sehr gebeßert. Das Gesicht fängt sich wieder zu klären an, es war dunckel roth, besonders um die Augen, die auch sehr litten. Nun troknet der Ausschlag ab. Aber die Kur hat Mutter sehr angegriffen, sie muß noch immer täglich mit Höllensteintinktur einreiben und sichf mit Oel einschmieren, ihre Nerven sind sehr reitzbar und sie ist öfters verdrießlich. Dennoch ist sie in der Beßerung sehr || vorangeschritten. Dazu kommt, daß wir jetzt schönes Wetter haben und daß Mutter nun wieder ins Freie kann. Nun steht uns künftige Woche der Umzug bevor da wird sich Mutter sehr in Acht nehmen müßen. Das neue Quartier g (am Havenplatz N. 2) sieht viel behaglicher aus als das alte, liegt sehr angenehm, an einem freien zu einer Promenade umgewandelten Platz u. sonst am Kanal, hat die Aussicht ins Freie. h Die für Dich künftig bestimmten Zimmerchen liegen hinten heraus, die Fenster gehen aber nach dem Garten. Dieser ist im Ganzen sehr bedeutend, wir haben die Promenade im ganzen Garten, wenn auch nur ein Theil zu unserm speciellen Gebrauch ist. Kurz die ganzen Umgebungen des Gartens sind sehr angenehm, die Dessauer, Köthner und Schöneberger Straße sind ganz in der Nähe. i In 7–8 Minuten bist Du mit Deinem Schritt am Leipziger Thor. Aber für den nördlichen Theil der Stadt ist das Quartier allerdings abgelegen. Bis zum Thiergarten gehe ich in ¼ Stunde, von unserem alten Quartier liegt es ½ Stunde ab und so lange wirst Du auch (doch nicht ganz j so lange, etwa 25 Minuten) bis zur Universität brauchen. Der Anhaltsche Bahnhof ist ganz in der Nähe und vom Anhaltschen Platz aus fährt alle halbe Stunde ein Omnibus bis zum Schloß. –

Ende October erwarten wir Mimi mit den Kindern, k Carl kommt Weinachten und zum 1 Januar wird er sein neues Amt in Freyenwalde antreten. Wir haben ihn dann mit den Seinigen in der Nähe. Aegidi, der jetzt grade bei seinem Vater in Freyenwalde ist, besorgt ihm Quartier. Die dortige Gegend ist sehr, sehr hübsch, westlichl mit Kiefern und Laubholz bewachsene Berge, östlich der Oderbruch. In 4 Stunden fährt man von hier hin, bis Neustadt Eberswalde mit Eisenbahn, von da mit Post in 2 Stunden nach F. –

Adolph Schubert hat sich sehr gebeßert, aber sein Uebel ist noch nicht von Grund aus gehoben, er hat immer noch Neigung zu gewißen fixen Ideen. Drum will ihn der Anstaltsdirector noch nicht fort laßen, er soll noch den Winter da bleiben, Adolph will aber jetzt fort. Darüber stehe ich nun mit beiden in Correspondence. – Johannes Müller ist bei Christiansand auf seiner Rükkehr auf seinem Schiff gestrandet, dabei ist der junge Schmidt, Sohn des verstorbenen hiesigen Medicinalraths, verunglükt, m Müller hat sich nur mit genauer Noth gerettet und dabei sein ganzes Gepäk verloren, man hat ihn aus dem Waßer ziehen müßen. (Das alles sagt die Spenersche Zeitung) 3 andre Begleiter von Müller sind noch in Norwegen zurükgeblieben, darunter muß auch Lachmann sein, der ist auf diese Weise glüklich n dem Unglük entgangen. Sonst ist nichts sonderlich neues paßirt. Die Einnahme von Sebastopol macht großes Aufsehen, die Engländer und Franzosen haben es durch die o Besetzung des Azowschen Meeres, vonp wo die Krim ihre Zufuhren bezog, eigentlich ausgehungert und wenn die Rußische Armee die Krim nicht verläßt, so wird sie kapituliren müßen. Der Fall von Sebastopol ist jetzt unerwartet gekommen. –

Tante Bertha ist munter und geht auf Krüken umher, sie präparirt sich zum Umzug, eben so Gertrud, Christian kommt in diesen Tagen her, wo wir Erbschaftsangelegenheiten abzuwarten haben. Weiß ist noch in Schlesien, wo er sich in der Brauerei zu Petersdorf sehr gemüthlich niedergelassen hat. Bei Passows war ich vor einigen Tagen, sie sind wohl. Carl Sethe ist in diesen Tagen auf einige Zeit nach Ziegenrück gereist. Teuscher macht übermorgen sein Examen, er läßt Dich sehr grüßen.

a gestr.: ich; eingef.: wir; b gestr.: Im; c gestr.: eine merkw; d eingef.: (Venedig); e eingef.: Tage; f eingef.: sich; g gestr.: sieht; h gestr.: wo; i gestr.: Aber; j gestr.: ); k gestr.: bis zu; l gestr.: östlich; eingef.: westlich; m gestr.: Schmidt; n gestr.: en; o gestr.: Em; p eingef.: von

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
20.09.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35971
ID
35971