Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 5. Oktober 1855

Berlin 5 Octob. 55

Mein lieber Ernst!

Vor einigen Stunden erhielten wir Deinen Brief vom 30 September aus Insbruck zu unsrer großen Freude. Ich habe ihn, um Deine Reise von Mailand nach Insbruck zu verfolgen, förmlich mit der Charte durchstudirt, bin aber über einen Punkt nicht im Klaren. Zuförderst theilen wir Dir unsre große Freude über Deine so gelungene Reise mit. Ja wohl bilden solche Reisen den Menschen innerlich und äußerlich ungemein aus. Wäre ich jung, nichts würde mich von bedeutenden Reisen zurükhalten. Aber das Alter setzt solchen Bestrebungen ein Ziel, obwohl [ich], wenn mich Gott leben läßt, noch manches zu versuchen gedenke. Denn wenn ich die Augen aufthue, Natur und Menschen sehe, so lerne ich in Einem fort. Wie vielmehr noch Du, der Du in die Detailkenntniß der Natur eingehst. Nun mußt Du eine recht vollständige Reisebeschreibung mit allen Eindrüken, die Du gehabt hast, niederschreiben und zwar so bald, als es nur Deine Zeit in Würzburg zulaßen wird. Wir wollen Dich darin nicht stören.

Zuförderst Deinen Brief, der eigentlich aus mehreren Briefen besteht. Der 1ste vom 27 September aus Malz. Das sind schon mir bekannte Fußstapfen, die ich auch betreten habe. Ich will die einzelnen Tage Deines Briefes verfolgen. Du kannst von Glük sagen, daß Du den einsamen wilden Weg von Pontresina nach Bormio (Worms) so guta durchgekommen bist, da hat Dir Deine Renommisterei wieder einen Streich gespielt. Du mußt also den 25 September in Bormio angekommen sein. Denn den 26sten hast Du den außerordentlich schönen Tag gehabt, der Dich so entzükt hat. An diesem mußt Du das Wormser Joch paßirt sein. Dieses kenne ich aus Heckt’s Reiseerzählungen, der auch darüber gekommen. Es ist die höchste Chaussee in Europa durch die Schneeregion, und die Oesterreicher haben allerlei Anstalten zur Sicherheit geschaffen, damit die Posten und Wagen nicht durch die herabrollenden Lawinen verschüttet werden. Es sind da gewaltige Bauten vorgenommen worden. Du hast nun außerordentlich schönes Wetter an diesem Tage gehabt, und bist bei Mondschein 2 Stunden weiter gewandert als Du Dir vorgenommen. Wie weit bist Du denn da gekommen und wo hast Du Nachtquartier gemacht? Hier bricht Deine Erzählung, die am 27 September von Mals datirt ist, ab und Du schreibst b im folgenden Briefe aus Insbruck vom 30 September, daß Du vorgestern (am 28sten) von Prad (am Fuß des Wormser Jochs) nach Mals gegangen seist. Wo bist Du denn am 27sten gewesen? Du bist am 26sten über das Wormser Joch gegangen. Wie weit? Wahrscheinlich nach Prad, wie ich nachträglich aus dem 1sten Briefe ersehe.c Dein erster Brief datirt vom 27sten, aus Mals, und doch bist Du nach dem 2ten Briefe vom 28sten von Prad nach Mals gegangen. Das widerspricht sich. Schreibe also noch etwas Näheres über Deine Tour über das Wormser Joch und wo Du den 27sten gewesen bist? Ich habe die Tour auf der Charte genau verfolgt. In Mals bekamen Carl und ich Lust, das Wormser Joch zu besteigen, man rieth uns aber ab, weil das Wetter nicht recht hell war und wir fuhren weiter nach Meran, wo wir Abends ankamen. Wir nahmen also den umgekehrten Weg. Du bist von Mals nach Nauders gegangen. Wir kamen von Nauders. Dieses liegt sehr hoch d in der Nähe der Etschquelle. Wir kamen Abends dort an, nachdem wir den schönen Finstermünzpaß paßirt hatten. Du bist von Nauders den Paß herunter nach Landeck gegangen. Am 29 September bist Du von Mals über den Finstermünzpaß nach Landeck gegangen. Das ist eine sehr starke Tour. In Landeck trennen sich die Wege e nach Insbruck rechts und nach Vorarlberg links. Es freut mich recht Deine Tour so verfolgen zu können. || Was nun Dein Herkommen betrifft, so wollen wir Dich in Deiner Zeiteintheilung und Deinen Studien nicht stören. Wir wollen ruhig bis Ostern warten. Mutter ist überdem jetzt schon mehr in der Beßerung vorgeschritten. Sie sieht noch sehr schlecht aus und ist sehr von Kräften. Aber der Flechtenausschlag ist sehr gewichen, das Gesicht sieht nun mehr weis aus, während es im tiefsten Stadio der Krankheit braunroth war. Aber am Kopfe und im Gesicht f und Halse ist der Ausschlag am hartnäckigsten, am übrigen Körper ist er fast ganz gewichen. Quinke ist sehr zufrieden. Wäre es nicht zu spät, so würde er Mutter noch in ein Schwefelbad (nach Nenndorf) schiken, aber künftigen Sommer muß sie hin. –

Wir haben beinah 14 sehr unruhige Tage gehabt, die Vorbereitungen zum Umzug, das Einpaken, der Umzug selbst am 26sten (Deinem schönen Reisetage) und nun jetzt über 8 Tage das Auspaken, über 8 Kisten Bücher! Wir haben vorn heraus nach dem Havenplatz 2 sehr hübsche Zimmer, ein 1fenstriges für mich, ein 2fenstriges (fast so groß wie das im alten Quartier) für Mutter. So dann hinten heraus nach dem Hofe ein großes schönes Zimmer wo gegeßen werden soll und die Bibliothek, auch ein großer Schrank für die Porcellan- und Glaswaaren, untergebracht ist. Hinter diesem Zimmer unsre Schlafstube, noch eine für die Schränke, sodann die Mädchenstube und die Küche. Längst dieser Zimmer führt ein langer Gang oder Flur in dieselben, hinter der Küche kommt dann hinten heraus nach dem Garten zu Dein kleines Quartier, aus 3 kleinen Pieçen bestehend. Du hast die Aussicht auf den Garten und Balkon. Die Entfernung von der Stadt ist größer als früher. Ich gehe bis zum Gensd’armen Markt 20 Minuten, bis zu Weiss beinah ½ Stunde. Du wirst nicht so lange brauchen. Alle halbe Stunden geht vom Anhalter Platz (uns ganz nahe) ein Omnibus bis zum Schloß. –

Vorn heraus nach dem Havenplatz ist unsre Aussicht schön und frei. Wir haben die Mittagssonne, g der Havenplatz ist belebt mit Schiffen, hinter ihm der neue Kanal. Hinter diesem ganz das Freie! Wir leben fast wie auf dem Lande. –

Mimi mit den Kindern wird gegen Ende des Monats eintreffen. Adolph Schubert hat sich sehr gebeßert und will jetzth durchaus von Kiel weg, obgleich die Aerzte ihn zu behalten wünschten. Ich werde ihn also wohl Anfang künftigen Monats in Kiel abholen, er wird zunächst bei uns wohnen, und ich mache vielleicht noch im November eine Reise mit ihm nach Schlesien auf sein Gut. –

Hier geht es sehr lebendig zu mit den Wahlen zu der 2ten Kammer. Die Hauptstadt spricht sich sehr liberal aus. In den Provinzen soll es sehr schläfrig hergehn, man schüchtert durch terroristische Maaßregeln der Behörden die Menschen ein und diese sind zu dumm und zu feig. – Johannes Müller soll über den Verlust von Schmidt ganz außer sich sein. Lachmann ist noch nicht zurük. Gestern besuchte uns Richthofen, er hat die Strapazen des Manövers sehr gut bestanden und freute sich sehr, daß Du Deine Reisetour so treulich aus gehalten hättest. Carl Sethe ist 14 Tage in Ziegenrück gewesen; i und hat mit Carl allerlei Ausflüge gemacht. –

Künftige Woche erwarten wir den afrikanischen Reisenden Barth aus Hamburg, er wird hier sehr gefeiert werden. Nun für heute genug j. Wir erwarten noch einen Brief von Dir aus München, dann wieder in alter Art aus Würzburg.

Dein dich liebender Alter

Haeckel.

Teuscher hat sein Examen glüklich bestanden.

a eingef.: gut; b irrtüml. wiederholt: Du; c eingef.: wie ich … Briefe ersehe; d gestr.: an; e gestr.: vor; f gestr.: ist der; g gestr.: hin; h eingef.: jetzt; i gestr.: dor; j gestr.: davon

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
05.10.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35970
ID
35970