Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 10./11. November 1852, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Berlin 10 November 52.

Mein lieber Ernst!

Deinen lieben Brief vom 6ten/7ten haben wir den 9ten (früh) erhalten und daraus ersehen, daß Du nunmehr in eine heiterere beßere Stimmung gerathen bist, was uns sehr freut. Aller Anfang ist schwer und so soll es Dir auch gehen. Mir ist es auch so gegangen. Ich hatte in dem ersten halben Jahr in Halle furchtbares Heimweh, um so mehr, da ich nicht Aussicht hatte, meine Eltern vor 3 Jahren wieder zu sehn. Diese Entbehrungen sind aber die Einleitungen zur Bildung eines selbst ständigen Lebens und sie treffen nicht allein Dich, sondern auch uns, denn wir sind, nachdem nun unsre beiden Kinder das Haus verlaßen haben, wie verwaist und würden es noch mehr sein, wenn wir nicht Grosvater und Bertha in der Nähe hätten. Dazu kommt jetzt die traurige Jahreszeit, kurze Tage, trüber Himmel und viel Regen. Was mich noch etwas zerstreut hat, sind die Wahlangelegenheiten zum Landtage, die mich sehr mobil gemacht haben und eben so ist Mutter mit dem Einpaken von Carls Sachen noch sehr beschäftigt gewesen (Bücher etc.), so daß das Zimmer, was ihr bewohnt habt, erst vor kurzem etwas in Ordnung gekommen ist; da wird dann aber auch, wenn 8 Tage vorüber sind, mita großer Sehnsucht der Ankunft der Briefe von den Kindern entgegengesehn und wenn sie dann eingehn, dann ist große Freude, die dann sogleich dem großväterlichen b Hause mitgetheilt wird. So sind wir denn kaum zur Ruhe gekommen. Was die Wahlangelegenheiten betrifft, so kann man sagen, daß durch dieselben dem Volke an den constitutionellen Puls gefühlt wird; und so hat sich denn ergeben, daß die Bauern auf dem Lande in der Regel vom constitutionellen Leben noch wenig Ahndung haben, sondern noch ganz dem alten absolutistischen Royalismus ergeben, und in den Händen der Landräthe und Junkers sind. Das wundert mich auch gar nicht, da die Bauern unter dem Absolutismus der Könige ihre Freiheit erlangt c und den Königen viel zu verdanken haben. Auch sind sie zu unwißend und mit dem Terrain eben zu unbekannt, um einzusehn, daß ihre Freiheit unter dem Absolutismus keinesweges gesichert ist und daß dieser eben so gut d dazu benutzt werden kann, sie wieder in Sklaverei zu bringen. (Ist es denn in Frankreich etwa anders?) Anders ist es freilich in den größern Städten, wo man den Constitutionalismus zu begreifen anfängt und gegen die Verfaßung keinesweges gleichgültig ist. Dies hat sich auch hier in Berlin gezeigt, wo die Wahlen der Deputierten constitutionell und die Ministeriellen meist nur durch starke Einschüchterungen durchgekommen sind. Denn der Hof hat hier durch die vielen Beamten und die vielen Gewerbetreibenden und Handwerker, die hier leben, großen Einfluß und an Drohungen von seiner Seite hat es nicht gefehlt. Die constitutionelle Parthei wird in der nächsten Kammer nur schwach vertreten sein und die Ministeriellen und Junker werden das entschiedne Uebergewicht haben. Das wird dann auch Beschlüße zur Folge haben, die endlich der unwißenden Maße wohl fühlbar werden und ihr vielleicht die Augen öffnen dürften. Inzwischen ziehen die Gewitterwolken in Frankreich allmählich herauf und da wird es dann in einigen Jahren heißen: „Volk vor! vertheidige das Land, gieb Gut und Blut her!“ und da wollen wir dann sehen, wie sich das durch die Junker und den Absolutismus bedrükte Land nehmen wird? Große Ideen, wie die der constitutionellen Freiheit arbeiten sich nur unter schweren Kämpfen durch, sie dringen aber endlich doch durch, und die Vorsehung geht ihre || eignen Wege bei der geistigene Entwikelung des Menschengeschlechts. Ein Paar Tage habe ich mich über den Ausfall der Wahlen schwer geärgert, jetzt bin ich wieder ruhiger geworden und ich hoffe nun bald wieder meinen Studien zu leben.

Was nun Dich betrifft, mein lieber Ernst, so wirst Du inzwischen unsern Brief erhalten haben, worinn wir Dich zum medicinischen Studio ermuntern. Du kannst nun um so mehr ganz ruhig darin fortschreiten, als wir Dich so nicht zum Beruf eines praktischen Arztes zwingen wollen, wenn es sich wirklich auf die Länge ergeben sollte, daß er Dir nicht zusagt. Daß Du aber den medicinischen Cursus durchmachen mußt, darüber sind auch alle Deine sachkundigen Freunde einig. –

Profeßor Weiss hatte nach seiner hiesigen Ankunft einen Rükfall bekommen, ist aber in der Beßerung, auch er ist der Meinung Deiner übrigen Freunde. Daß Du ein so geistreiches Collegium über die Anatomie hörst, ist ja sehr schön. (NB. Der Abriß von Kölliker den Du uns schicken wolltest, hat dem Briefe nicht beigelegen). Du scheinst ja mit Kölliker bekannt geworden zu sein. Schreibe uns doch etwas darüber und folge seiner Offerte, die Bälle der dortigen Harmonie zu besuchen; Du brauchst ja nicht zu tanzen. Ich selbst nehme ohne zu tanzen, recht gern einige Stunden an einem Balle Theil. Vergiß ja nicht, Dir täglichef Bewegung zu machen, das verlangt auch Dein Knie, sonst kommt es nicht ins Gelenk; das verordnete schon der alte Rosener Schulze. Du brauchst Dich ja nicht zu übernehmen. Wie bekommt Dir denn das Pflaster? Du wirst nicht sogleich, sondern erst allmählich Wirkung spüren. Auch das Billard ist bei schlechtem Wetter eine sehr gute Bewegung. Ich setze überhaupt voraus, daß Du Dich (um auch Zeitschriften etc. zu lesen) in die Harmonie hast aufnehmen laßen. –

Der 2te Theil von Humbolds Kosmos hat mich ebenfalls sehr angesprochen. Vorigen Sonnabend war ich [in] der geographischen Gesellschaft in welcher Ritter wieder manche intereßante Mittheilungen machte, besonders einen Brief über Südafrika. Wilhelm Bleek sucht die Notabilitäten fleißig auf. Ich glaube, er traut sich zu viel zu, er möchte Dir etwas von seiner Ueberschätzung und Du ihm etwas von Deiner Unterschätzung abgeben, da würde sich die Sache ausgleichen. Ich will deshalb nicht sagen, daß er ohne Kenntniße und Talent sei. Ob er aber die rechte Bahn, die er gehen soll, treffen und darin aushalten wird, ist eine andre Frage. –

Schreibe uns nur immer, wie in Deinem letzten Briefe, wie Du lebst und was Du treibst, recht ausführlich. Wir werden Deine Briefe als Tagebuch aufheben; und Du sollst auch alle Wochen von uns einen Brief haben. Ich habe ja Zeit zum Schreiben und rekapitulire auch gern meine Beschäftigungen und was ich erlebt habe. Diesen Winter bin ich nun schon orientirt und weis, was ich zu thun habe und wie ich meine Zeit eintheile. Nun meine lieben Jungens aus dem Hause sind, möchte ich gerne noch ein Paar Jahre leben, um zu sehen, wie sich ihr weiteres Leben entwikelt. In Euch Kindern leben wir ja, g mit Euch und in Euch und Ihr seid unser schönstes Besitzthum. Gott nehme Euch in seine Obhut und erhalte Euch zu Eurem Gedeihen und zu unsrer Freude.

Dein Dich liebender Vater Haeckel

Hast Du denn Lachmanns Bekanntschaft gemacht, den Dir Lichtenstein empfohlen hat?

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

11/11

Guten Morgen, lieber Ernst

Daß Du siehst, daß wir Dir auch alles aufrichtig schreiben, muß ich Dir noch sagen, daß ich gestern unwohl war und bis 1 Uhr im Bette bleiben mußte, heute bin ich wieder ganz gesund. – Heute zu Mittag sind Anna und Karl Benecke aus Frankfurt (Oder) u. Heinrich bei uns, wir lassen noch Regenbrecht bitten.

hGrüße Bertheau.

a gestr.: nach; eingef.: mit, b gestr.: Freund; c gestr. Hab; d gestr.: wieder; e eingef.: geistigen; f eingef.: tägliche; g gestr.: den; h Text weiter am linken Rand: Grüße Bertheau.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
11.11.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35909
ID
35909