Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 2. Januar 1856

Berlin 2 Januar 56.

Mein lieber Ernst!

Deinen Brief mit dena Weihnachtsgeschenken, Deine Reisebeschreibungen undb Dein Brief vom 29sten sind alle richtig angekommen. Wir haben diese Weihnachten blos im Familienkreise, aber in einem großen verlebt, denn die Stettiner mit ihren Kindern waren hier, dazu Carl mit den Seinigen, die Familien von Julius, Tante Bertha und Gertrud, Naumanns, wenn diese alle beisammen sind, so will das schon etwas sagen (wenigstens einige 30 Personen). Gestern hat sich dieser Kreis aufgelöst, Carl ist vorausgegangen nach Freyenwalde, heute geht Mimi mit den Kindern nach und es wird nun wieder leer. Wir haben also das ganz entgegengesetzte Leben von dem Deinigen geführt. Das geht so in der Welt, man kann nicht immer allec Genüße zusammen haben. Wir waren meist Mittags und Abends bald bei dem einen bald bei dem andern beisammen, alle haben bald Mittageßen, bald Abendbrod gegeben. Am heiligen Abend waren die d Stettiner bei uns, Julius und Naumanns feierten ihn in ihren Familien, am Sylvester waren wir bei Bertha, auch Gertrud hat ein Abendeßen gegeben, eben so die Geheimräthin Jacobi. Nun bedürfen wir wieder der Ruhe. Zwei schöne Predigten von Sydow habe ich gehört. Das Wetter war sehr neblicht und naß, fast immer Thauwetter. Der kleine Carl hat an dem Aufbau des Weihnachtsbaums (zuletzt am Sylvester bei Tante Bertha) große Freude gehabt. Er fängt nun an, viel mehr nachzusprechen und ist überhaupt sehr drollig. Der kleine Hermann ist ein sehr prächtiger Junge. So gebe denn Gott seinen Segen zum neuen Jahre. Das Jahr 1855 ist voll schwerer Prüfungen gewesen, aber auch diese dürfen nicht ausbleiben, sie erziehen uns und knüpfen uns an jenes Leben. Gestern Abend ist der Präsident v. Grollmann gestorben, er hat in den letzten Jahren eigentlich nur vegetirt. Sein Tod ist eine wahre Wohlthat. Er ist ein halb Jahr älter als ich und gehört zu meinen ältesten Bekannten und Freunden. Diese sterben alle sehr weg, mit dem Minister Eichhorn wird es auch nicht mehr lange dauern. Wir sind alle 70ger, haben zusammen die große Zeit durchlebt und müßen nun auf unsre letzten Tage noch eine Zeit der Verblendung, Schwäche, Schmach und Niederträchtigkeit sehen, denn die Parthei, die jetzt regirt, lebt nur von Gewaltsstreichen und hat, da ihr alle Mittel zu ihren Zweken gleich sind, alle Scham verloren. Doch auch solche Durchgangsperioden in der Geschichte dürfen nicht fehlen. Es ist nie anders gewesen und doch geht die Welt vorwärts und ihr Naturforscher tragt nicht wenig dazu bei. Der Mensch wird immer mehr Herr auf der Erde, welches Ziel ihm hierin gesteckt ist, wißen wir nicht, aber es giebt noch viel auf Erden zu thun, so deutet z.B. der rußische Krieg auf große Veränderungen im Orient. Die europäische Civilisation, aus dem Christenthum hervorgegangen, steht dem Muhamedanismus gegenüber, sie beriechen sich, (wie man zu sagen pflegt) ehe der innere Kampf recht los bricht. Hat auch das Christenthum noch nicht alle Laster in Europa überwunden (da der Kampf des Guten und Bösen auf dieser Erde nie aufhören wird), so hat es doch schon ein großes Princip durchgesetzt: Die Achtung jedes einzelnen Menschen wegen der ihm einwohnenden Menschenwürde, Christus hat sie als Menschenliebe verkündigt, und daraus ist die äußere Forderung der Menschenrechte, welche die Alten nicht kannten, hervorgegangen. Sie ist äußerlich ausgesprochen in der französischen Revolution und dieses gab ihr eine Berechtigung, die sie troz der damit zu Tage gekommenen Verbrechen nicht verloren hat. ||

Mit diesem Princip verbunden und ihm anhängend gieng die Berechtigung auf freie Entwikelung der Individualität und ihrer Kräftee, die allmählich auch ganz Deutschland durchdrungen hat und die jetzt endlich auch in Oesterreich zur Anerkennung gelangt ist. Wenn man aber die Jugend der Vormundschaft entläßt und sie nun auf eignen Füßen stehen lernen soll, so fehlt es nicht am Hinfallen und Purzeln. Oder wenn der Mensch die Freiheit hat zu wählen und rechts und links zu gehen, so fehlt es nicht an Fehltritten und Verirrungen, der Mensch muß aber doch lernen, vorwärts zu gehen und neben der sittlichen Freiheit finden wir eine Maße von Sünde. Soll der Mensch deshalb wieder geknebelt und in den Kinderrock wieder eingezwängt werden? Mit nichten! Auch die Sünde hat Gott zugelaßen, damit sich die Menschheit mit Freiheit und im Anschauen des göttlichen Wesens und durch daßelbe erfrischt und gestärkt, wieder aus ihr herausarbeite. Da giebt es nun eine stümperhafte, eigensüchtige, hochmüthige, herrschsüchtige Kaste, welche gern sagt: nur im Käfig könne der Mensch gedeihen, nur in der Bevormundung durch eine ausgezeichnete Klaße (womit sie sich selbst meinen) könnten die Völker gedeihen, sie sehen nur den Splitter im Auge des anderen, aber den Balken in ihrem eigenen Auge nicht. In dieser Zeit des Kampfes liegen wir jetzt. Er muß durchgemacht f werden, kein Leben auf Erden ohne Kämpfe, diese sind die Würze des Lebens, in ihnen kommt der höhere Mensch erst zum Vorschein. Indem Du nun in Dir selbst zum Bewußtsein der Kraft, zum Muth sie zu benutzen, gelangt bist, werden auch Dir die Kämpfe nicht ausbleiben, auch Deine Kräfte werden sich nur in Anstrengungen und Kämpfen entwikeln. Wir freuen uns sehr, daß Du in dem letzten Jahre g einen Schritt vorwärts gethan und Lebensmuth gefaßt hast, Du hast nun darauf zu halten, daß er Dir nicht wieder verloren geht und daß er wohlthätig und fortdauernd auf Dein Leben wirke; daß er fest werde. „Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt“. sagt Göthe, ich glaube im Tasso. Wir lernen hier auf Erden, nicht zu Ende, so verfolge ich fortdauernd die Entwikelungen der h Weltgeschichte und ins besondere die Wirkungen des Christenthums in derselben, dieses Elements, wodurch das i Menschengeschlecht aufs neue befruchtet worden und zu neuem Leben erwacht ist. Dieses Element arbeitet innerlich immer fort bringt immer neue Verwandlungen hervor und ist der Sauerteig, der das Menschengeschlecht vor Fäulniß bewahrt. Aber viele gebildete Menschen wißen es nicht, daß es das Christenthum ist, welches so fortwirkt und es ist auch nicht immer so leicht zu erkennen, denn es geht auch auf diesem Weitzenacker nicht ohne Unkraut ab und es giebt auch einzelne Stellen, wo das Unkraut vorwuchert und die ächten Pflanzen zu erdrüken droht. Noch dazu haben wir es in einer Gestalt überkommen, die viele irre macht und man muß es innerlich in sich durchleben, um daran zu glauben. Aber, wem es recht darum zu thun ist, dem bleibt der Glaube nicht aus. Im Kampfe blüht der Glauben empor. – Ich habe jetzt allerlei Bücher geschenkt bekommen, die ich nun zu lesen habe: Droysen’s Geschichte Preußischer Politik, Bunsen’s Zeichen der Zeit (contra Stahl), die viel Aufsehen machen, Schmidts Litteraturgeschichte (gewißermaßen eine Fortsetzung derjenigen von Gervinus). Bunsen nimmt Göthe und Schiller gegen die Frömmler der Zeit in Schutz. Ich habe diese Parthie noch nicht gelesen, weis aber im Voraus aus eignem Nachdenken, daß Göthe, so antik er war, sich dem Christenthum nicht hat entziehen können, es lag eben in der Einseitigkeit der Bildung des 18ten Jahrhunderts, sich das Wesen des Christenthums nicht zum Bewußtsein bringen zu können, Lessing drang schon viel früher ein und lies nicht ab, j darüber nachzudenken und sich darüber aufzuklären. –||

Mit Adolph geht es nicht sonderlich. Schon die Aerzte meinten, als ich ihn holte, daß er noch nicht reif sei, die Anstalt zu verlaßen. Da er sich aber wesentlich gebeßert hatte, so wollte er durchaus nicht länger bleiben und wir hatten kein Mittel ihn zu zwingen. So kam er zu uns, anfangs sehr schüchtern, als er wieder unter Menschen kam; doch fand er sich allmählich da rein, er ging mit in unsre Familiengesellschaften, insbesondre auch zu Reimers, wo er Bekannte fand. Endlich kam Weihnachten heran, wo wir täglich in Gesellschaft waren. Dieses wurde ihm zu viel. Wir hatten ihn immer darauf hingewiesen, daß er eine bestimmte Beschäftigung suchen müße, und es sei am natürlichsten, sich mit der Landwirthschaft bekannt zu machen, da er ein Landgut besitze. Er entschloß sich endlich, als Volonteur zu einem Oekonom, der junge Leute dieser Art heran bildet, gehen zu wollen. Carl reiste also vor einigen Tagen mit ihm zu einem solchen in der Nähe von Biesenthal. Dort misfällt es ihm und so zeigte sich die innere Verstimmung seines Gemüths aufs neue, er ist sich dieses krankhaften Zustandes bewußt, k seine Stimmungen wechseln fast stündlich, auch dieses erkennt er und ist über diesen Zustand ganz unglüklich. Quinke hat ihm heute aufs neue eine bestimmte Beschäftigung ans Herz gelegt, denn wenn er so in Gedanken brütet, wird es immer schlimmer. Da er, wie ich voraus sehe, bei seinem kranken Gemüthszustande nirgends aushalten wird, so sehe ich kein andres Mittel, als daß er in die Anstalt zurükkehrt, wo er sich so sehr gebeßert hatte. Er ist ein unglüklicher Mensch. Ob er je vollständig geheilt wird, ist noch die Frage. – Möge Dir Gott Deinen Lebensmuth erhalten, der Dich Deiner weiteren Entwikelung entgegenführen soll! Muth und Vertrauen auf Gott! Der letztere verläßt mich nie, wenn es auch schlecht geht. Die Welt ist nicht dem Zufall überlaßen; sondern göttliche Führung und Anordnung, und die Leitung der Weltgeschichte steht in seiner Hand. – Mutter ist durch das unruhige Leben der Feiertage etwas angegriffen, so wie überhaupt noch etwas Mattigkeit von der Krankheit zurükgeblieben ist. In der Hauptsache geht es gut. – Ich werde noch vonl kleinen Blutschwären geplagt, die sich, nachdem der große geheilt ist, noch hie und da am Halsem zeigen, ich kann aber dabei meine täglichen Spatziergänge machen. Aber meine Verdauung ist nicht ganz in Ordnungn, seit ich einige Wochen das Zimmer hüten mußte.

– Deine Reisebriefe lesen wir mit großem Intereße, auch Weiss thut dieses, bei dem ich gestern Abend war und der auch einen Mittag bei uns war. Er meinte: es kämen doch halsbrechende Parthien in Deiner Reise vor und Du hättest von Glük zu sagen, daß alles so vorüber gegangen. Sie grüßen Dich aufs herzlichste und nehmen den lebhaftesten Antheil an Dir. – Ehrenberg, den ich vor einigen Tagen sprach, fragte: ob Du auch alle Kollegia, die Du auf preußischen Universitäten hören müßtest, um hier promoviren zu können, gehört hättest? Oder wirst Du etwa im künftigen Sommersemester noch einige nachholen müßen? – Ehrenberg ist jetzt Rector magnificus.

Für heute genug Dein Dich liebender Vater

Haeckel

a eingef.: Brief mit den; b eingef.: und; c eingef.: alle; d gestr.: bei uns; e eingef.: und ihrer Kräfte; f irrtüml.: gemacht; g gestr.: diesen; h gestr.: Ge; i gestr.: G; j gestr.: sich; k gestr.: und; l eingef.: von; m eingef.: am Halse; n irrtüml.: Unordnung

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
02.01.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35903
ID
35903