Meyer, Hans

Hans Meyer an Ernst Haeckel, Leipzig, 8. November 1918

PROF. DR. HANS MEYER

GEH. HOFRAT.

LEIPZIG, 8/11.18.

Lieber Vater,

Es sind verdammt ernste Tage, in denen wir leben. Heute haben hier die Unabhängigen Sozialdemokraten eine Kraftprobe geliefert, die bereits die Hälfte des Militärs ihnen zugeführt hat, sie in den Besitz des Bahnhofs und anderer öffentlicher Einrichtungen gebracht und Leipzig vom Aussenverkehr grösstenteils abgeschnitten hat. Gott sei Dank, dass ich gestern nicht nach Jena gefahren bin, wie ich eigentlich wollte, um den 1. Geburtstag meiner Enkelin zu feiern; ich würde wahrscheinlich unterwegs festsitzen || und Liese mit den Kindern allein in dem Trubel lassen müssen. So werden wir alles, was kommt, gemeinsam aushalten. Ein Glück, dass solche Umstürze sich ziemlich schnell vollziehen; je schneller, je weniger Widerstand geleistet wird. Und Widerstand ist ja beim Versagen des Militärs gänzlich ausgeschlossen, so dass wir wohl innerhalb der nächsten 8 Tage mit Wiederherstellung der Ordnung, aber in einer Republik, rechnen können.

Auch Jena wird nicht vom Umsturz verschont bleiben. Dich wird Niemand behelligen, denn Du giltst ja längt auch für einen politischen Revolutionär, dem die Sozialdemokratie || gewogen ist. Aber um unsre liebe Else in der einsamen Landgrafenvilla haben wir schwere Sorge. Ich habe ihr gestern, als man noch telefonieren konnte, gesagt, sie solle, sobald es in Jena zu Unruhen kommt, ohne Zögern mit Elisabethchen zu Dir in die Villa Medusa übersiedeln; und ich mit Liese bitten Dich recht inständig, sie bei Dir aufzunehmen, bis sich die Wogen wieder beruhigt haben. Alle Schwierigkeiten der Nahrung, Heizung etc. spielen gegenüber der schweren Gefahr, in welche Else auf dem Landgrafen geraten könnte, gar keine Rolle. Sie wird wohl bereits mit Dir über die Sache gesprochen und alles Nötige verabredet || haben. Es wäre Liese und mir eine sehr grosse psychische Entlastung, wenn wir von Dir oder von Else baldigst hörten, dass sie bei Dir in der Villa Medusa ist.

Über tausend Dinge, die uns jetzt das Herz und den Sinn bewegen, kann ich heute nicht sprechen. Hoffentlich entwickelt sich die Lage so schnell, dass ich in 14 Tagen einmal zu Euch hinüber fahren kann. Inzwischen sind alle unsre guten Wünsche bei Euch.

Herzlichst

Dein getreuer

Hans.

Liese und die Kinder sind gesund und lassen schön grüssen.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
08.11.1918
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35748
ID
35748