Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Ziegenrück, 30. November 1855

Ziegenrück 30 Novbr | 1855.

Lieber alter Junge!

Als ich vor nun bald vierzehn Tagen Deine Tagebuchblätter mit der Nachricht von Deinem Fingerleiden erhielt, wollte ich Dir wo möglich gleich schreiben und Dich bitten, Dich ja recht in Acht zu nehmen. Damit die böse Geschichte bald zu Ende wäre. Der Brief jedoch, den ich von Dir in Berlin vorfand, klang ja noch beruhigender als der an mich, und so komme ich, da ich das durch die Reise Versäumte erst nachholen mußte, jetzt erst dazu Dir zu schreiben.

Du hast Dich gewiß auch recht gewundert und a gefreut darüber, daß ich von Erfurt aus noch diesen Abstecher nach Berlin gemacht habe. Es war aber auch zu verlockend; die Reisekosten, die ich als Zeuge erhielt, reichten gerade noch die Reise zu machen. Nach langem Ueberlegen – (Doktor’s redeten mir sehr zu) entschloß ich mich dazu und habe so mir und den Unsrigen eine recht große Freude bereitet. Am 22st. Vormittags halb 11 Uhr kam ich an u. überraschte vollständig. Sie waren eben dabei, Deinen Brief zu lesen. Karlchen sah mich erst lange verwundert an, als wollte er sagen: ich begreife nicht wie das so bekannte Gesicht, das ich lange nicht gesehen, auf einmal zum Vorschein kommt. Dann fing er an zu lächeln und mich zu liebkosen. Es ist ein ganz reizender kleiner Pussel. Hermann hatte recht zugenommen u. wird ein starker Bursche, noch kräftiger als Karl. – ||

Mutter fand ich sehr gebessert, wenn sie auch noch mager und schwach ist. Vater leidet, wie du jetzt wissen wirst, an einem starken Blutgeschwür u. muß die Stube hüten. Doch ist Quinke mit dem wenn auch langsamen Verlauf der Krankheit zufrieden. Es war schon geschnitten und eiterte tüchtig. Adolph fand ich, wenn auch schmal und blaß, doch im Uebrigen recht munter u. verständig. Die Logis der Unsrigen in No. 2 und 3. sind recht nett, doch bei den Aeltern die Räume im Flügel etwas kleiner als ich mir sie dachte. Deine Wohnung wird Dir recht gefallen u. vollkommen ausreichen. –

Die Zeit verging mir in Berlin ziemlich rasch. Des Vormittags waren einige Besuche, Fr. Prof. Weiss, Siegfried Reimer, die Brunnemann, Agnes Sack aus Frankfurt, p. da; Nachmittags 2 Frl. Passow’s, Abends Onkel Julius mit Frau. Ich schlief den Nachmittag ein Stündchen, weil ich auf der Nachttour von Erfurt fast gar nicht hatte schlafen können; den andern Morgen machte ich ein Paar Gänge und war sonst zu Hause. Nachmittag 6½ Uhr ging der Schnellzug nach Apolda wo ich um 1 Uhr anlangte, bis ½6 Uhr auf dem Bahnhofe kampirte, um noch vor Abgang der Post eine Geschäftssache mit der Güterexpedition abzumachen u. dann nach Jena abfuhr. Von da nahm ich mir einen Einspänner und von Poesneck aus ging ich her. Um ½4 Uhr war ich oben im Bureau, um 6 Uhr unten. Bei Doctor’s, zu denen ich gleich ging, um meine Fata zu erzählen, || fand ich es leider nicht gut. Er hatte seit 2 Tagen etwas Blutb ausgeworfen. Am Sonntag Morgen schickte die Doktorin und ließ mich bitten mit ihr zu sprechen. Der arme Dr. hatte in der Nacht tüchtiges Blutbrechen gehabt und war sehr matt. Wir schickten noch an demselben Tage zu einem Schleizer Dr., Zenker, der jedoch erst Montag Vormittag kommen konnte u. wenig Hoffnung auf eine dauernde Genesung des Dr.’s zu haben scheint. Er soll sich bis zum Frühjahr der Land-Praxisc ganz enthalten und jetzt mehrere Wochen sich zu Hause halten. Das Blutbrechen ist zwar jetzt nicht wieder gekommen, aber er ist doch sehr herunter. Der Fall ist sehr traurig; Du kannst Dir denken, in welcher Stimmung er ist, der von der Praxis allein lebt und nun dieselbe auf so lange Zeit liegen lassen soll. Wenn zu den Schmerzen über die Krankheit u. deren Verlauf noch die Sorge um die äußre Existenz kommt, dann ist die Noth wahrlich groß. Sie und die Cousine haben abwechselnd bei ihm, der noch das Bette hüten muß, gewacht. Auch hat sie an ihre Schwester geschrieben, und diese gebeten, für den Winter her zu kommen, um ihr zur Hand zu sein und die schwere Zeit zu erleichtern. Ich gehe ein Paar || Male des Tags hinüber und sehe, wie es steht. Du kannst denken, daß für mich der Aufenthalt hierselbst noch düsterer ist, als er ohnehin schon war. Zum Glück habe ich so viel Arbeiten, daß ich nicht viel an etwas Andres denken kann. Das Schicksal der armen Doctor’s geht mir sehr nahe, und ich wünschte mir nur ihnen, außer mit Rath und Trost, auch durch materiellen Zuschuß recht beistehen zu können.

Nach Erfurt ist geschrieben u. über seinen Zustand ein Attest eingeschickt; wenn ihn nun etwa ein junger praktischer Arzt auf ein halb Jahr oder länger vertreten soll, wüßtetst Du etwa Jemand aus Deiner Bekanntschaft der Lust dazu hätte, u. sich dazu eignete? Natürlich einen tüchtigen Körper müßte er dazu mitbringen.

Nun noch Einiges von unserem Brückenfeste, das am 19 November, den Tag vor meiner Abreise nach Erfurt, recht hübsch gefeiert wurde. Es bewegte sich Vormittag 11 Uhr ein langer Zug von Schützen, Bergleuten und Hüttenleuten in Festtracht, bekränzten Mädchen, Schulkindern, Honoratioren pp mit 2 Musikkören, einem sechsspännigen bekränzten Frachtwagen an der Spitze, nach der Brücke hinaus; kurz vor derselben hielt der Zug, der Diakonus hielt eine geistliche, der Landrath eine || weltliche Rede, dann zog der Zug unter dem Donner von Böllern, deren Echo sich an den Pfeilern der Brücke wunderbar brach, über dieselbe u. wieder zurück. Ein Festmahl mit vielen Toasten (auch einem von mir auf die Thüringer Berge) und ein solenner Ball, im Schießhause, vollendeten den Tag. Es war ein recht gelungenes Fest, das in Ziegenrücks Annalen noch lange eine große Rolle spielen wird.

Abends

Dr. Zenker aus Schleiz ist heute Mittag d wieder da gewesen, ein ruhiger, Vertrauen erweckender Mann. Er ist mit dem Zustande des Kranken nach Umständen zufrieden. Es scheint mir aber doch, als ob es sich hier nun um Palliative handele, um ein Hinausschieben des traurigen Zieles. Die letzte Nacht hat er viel trockenen Husten gehabt, der ihn sehr angreift; nun soll er des Abends Pulver mit Morphium und plumbum nehmen, die er den ersten Tag nach der Attaque auch den Tag über nehmen mußte. Zu Bette wird er wohl noch längere Zeit liegen müssen. Eine Stunde im Lehnstuhl täglich zu sitzen, ist ihm heut erlaubt. – Heut Abend las ich in der Magdeburger Zeitung die Todesanzeige eines Dr. Carl Müller, der in Würzburg am 20st d. M. im Spital gestorben ist, durch seinen Vater Pastor in Samswegen. Er stattet dabei dem Assistenzarzt Dr. Schmidt u. einem Architekten Baudouin, seinen Dank für treue Pflege des Verstorbenen ab.

Habe ich Dir schon mitgetheilt, daß ich vom 15t d. M. ab Urlaub erhalten habe? – Ich denke || über Zeitz, Naumburg, Merseburg, mit einigem Aufenthalt an diesen Orten, nach Berlin zu reisen u. dort etwa den 19t einzutreffen. Du schreibst mir wohl noch vorher einmal und schickst mir vielleicht auch noch ein ordentlich Stück Tagebuch, das ich dann selbst mitbringen kann. Schrader der sich sehr für Deine Reise interessirt, ist den 13 und 14t Xr. wieder hier, wo wir noch eine Sitzung haben. e Der eine Hülfsrichter der mich vertreten u. vom 1 Januar kommenden Jahres ab in Haffmann’s Stelle einrücken wird, kommt schon am 10t d. M. – Die Ziegenrücker Stelle ist noch nicht besetzt; für Ranis ist ein Kreisrichter Zahn, der ein recht tüchtiger u. netter Mann zu sein scheint, vor 8 Tagen angekommen. –

Ich werde sehen, ob morgen Nachricht von Mimmi kommt, u. erst nach Ankunft der Post abschicken.

den 1 Dezember Mittags

Wider Erwarten habe ich heut noch keinen Brief von Mimmif erhalten. Ich sende daher diesen jetzt ab

Ade. In alter Treue,

Dein Karl

a irrtüml. Wdh.: und; b eingef.: Blut; c eingef.: Land-; d gestr.: da; e gestr.: Mei; f eingef.: von Mimmi

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.11.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35438
ID
35438