Haeckel, Karl; Haeckel, Carl Gottlob

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 26. Januar 1852, mit Beischrift von Carl Gottlob Haeckel

Berlin

26/1 52.

Lieber alter Junge.

Dein gestern angekommener Brief, der uns Dein Fußleiden meldet, hat uns alle mit lebhafter Theilnahme für unsern armen, einsam in Merseburg zubringenden Jungen erfüllt. Gott sei Dank, daß es ja nun wieder besser zu sein scheint. Nimm Dich nur ja recht in Acht mit Laufen, Springen und Erkältung, und laß, wenn es noch Schlittschuhbahn geben sollte, Dir lieber das Gelüste darnach vergehen.

Also Leberthran nimmst Du? Sieh, da sympathisirst Du ja recht mit meiner Mimmi, ohne es zu wissen; der Arzt hat ihr es jetzt verordnet und sie soll gar wunderliche Gesichter schneiden, wenn sie das Zeug nimmt. Thust Du das auch? – Im Uebrigen geht es ihr jetzt wieder gut und sie ist munter und heiter, wie es die Braut eines Examinanden nur sein kann.

Tante Minnchen ist seit Freitag Nachmittag zur Auktion hier zu der mehrere Verwandte gekommen sind. Heute wird wohl der letzte Auktionstag sein. Das schöne Sopha haben wir bekommen, u. ½ Dutzend Stühle, einen großen Tisch, auf den Mutter spekulirte, aber nicht. || Nun bekomme ich Mutters schwarzes Sopha zu mir herüber und meine Stube wird weit gemüthlicher dadurch werden. Mutter ist gestern u. vorgestern von früh 9 Uhr bis 4 Uhr Nachmittags zur Auktion gewesen. Heut wird es wohl auch noch lange dauern; deshalb kann sie Dir heut nicht mit schreiben. Vater ist bloß Stundenweise zu seinem Amüsement hingegangen.

Mir geht es, wie immer; ich werde a noch tüchtig zu thun haben, wenn ich mit meiner Vorbereitung bis Ende März fertig werden will. Abends gehe ich gar nicht aus. Nur des Sonntags Nachmittags bin ich gewöhnlich mit Meyer u. Aegidi zusammen, welcher letztre uns gestern viel von dem Festmahle der Linken an Friedrichs des Großen Geburtstage erzählt hat. Denke Dir, die Polizei hatte der Musik verboten, das Arndt‘sche Lied dazu zu spielen. Aber Schwerin hat es doch durchgesetzt, und auf seine Verantwortung hin haben sie es spielen müssen.

Bei Deinem deutschen Aufsatz über die Pflanzen fällt mir ein, daß du doch ja den früheren über Fichte, Tanne pp von Osterwald Dir zurückerbitten mußt.

Nun, liebster Bruder, nimm mit diesen || Zeilen vorlieb, die ich Dir zwar nicht bei Morgenroth aber doch bei frühem Sonnenschein geschrieben habe. Das jus ruft zur Arbeit.

Ade Dein treuer Karl.

[Beischrift von Carl Gottlob Haeckel]

Mein lieber Ernst! Was Dir in den letzten 8 Tagen begegnet ist, bildet einen kleinen Anfang der Lebensprüfungen: diese Verlaßenheit, dieses Zurückgewiesensein auf sich selbst, dieses Ertragen eines körperlichen Leidens, wobei die häusliche Pflege fehlt. Das alles soll Deinen Willen und Charakter stählen helfen, denn Du hast viel Anlage dazu, den Muth zu verlieren und Dich ganz dem Schmerz hinzugeben, das darf nicht sein. Gott ist überall bei Dir und hilft auch wieder, wenn man auch verlaßen zu sein glaubt. Auch ist Deine Phantasie, wie ich schonb früher bemerkt habe, immer beschäftigt, Dir das schlimmste vorzustellen und Dir allen Muth zu benehmen; dagegen kann man durch ernsten Willen viel thun. Wie gesagt, Du bist durch das lange Verbleiben im elterlichen Hause sehr verwöhnt und noch nicht geübt, allein dazustehen und Dich zu faßen. Das wirst Du allerdings lernen müßen und dazu ist Dein Unwohlsein die erste Einleitung gewesen. So bilden die Lebensvorgänge eine Schule für den Menschen.

Hier in der Familie ist es seit einigen Tagen wegen der Auktion sehr unruhig. Guido ist hier, August Sack aus Halle nebst seinem Schwager dem Major Vink und seiner Frau, der ein sehr vernünftiger solider Mann zu sein scheint. Da sind denn die Verwandten täglich von 9 bis 3, 4 Uhr in der Wohnung der verstorbenen Tante beisammen, heute wird die Auktion enden, es geht ganz munter dabei zu und mitunter auch spashaft, wenn sie bei einzelnen Gegenständen sich so jagen. Heute wird Mutter wahrscheinlichc für Dich die beiden Bilder erstehen (Humbold u. Wildenow) auf die August Sack auch bieten wollte, die er Dir aber überlaßen will. August ist ausge- || zogen in Halle d und wohnt jetzt in der Nähe der 3 Schwäne in der Straße nach dem Pädagogio zu. Er hat auf der Auktion allerlei gekauft und gedenkt nun die Zinsen des ererbten Kapitals jährlich zu verreisen.

Am Sonnabend waren wir in der wißenschaftlichen Vorlesung, welche ganz für Dich gemacht war. Der Profeßor Braune las über das „rechts und links“ in der Natur. Die Vorlesung war mehr für Liebhaber der Naturwißenschaften, doch bin e auch ichf sehr aufmerksamg gewesen und besonders der Schluß, der eine sehr ernste religiöse Färbung bekam, hat mich sehr angezogen. Er sucht die Verschiedenheit der Bildungen auf der rechten und linken Seite der Pflanzen, Thiere und Gewächse nachzuweisen, g die doch zusammen wieder eine Symmetrie bilden und wies so ein Naturgesetz in dieser Bildung nach. Beim menschlichen Körper z. B. die Verschiedenheit der rechten und linken Seite, die rechte geschikter und befähigter zum Handeln, die linke die Ausströmungen des Bluts aus den Herzkammern und das Zurükströmen zu denselben darstellend, die Verschiedenheit der Gewinde bei den Stengeln der Pflanzen nach links und rechts und auf den Blättern. Mein Gedächtniß reicht nicht aus, um Dir etwas Vollständigeres wieder zu geben. Vielleicht wird die Spenersche Zeitung hierüber etwas liefern. Zuletzt frug er nach dem Warum? und dem Zwek dieser Erscheinungen und dieses führte ihn auf die göttliche Kraft, die dieses alles gebildet hätte und auf die göttliche Liebe zurük. Nach der Vorlesung gingen wir sogleich zu Weissi, wo wir auch zuerst etwas von Deinem Unwohlsein, was aber schon größtentheils vorüber sei, erfuhren. Herr v. Buch war auch drinn gewesen und hatte sich mit dem Schluß nicht zufrieden gezeigt, da sei der Vorleser sehr links gewesen. Die Naturforscher sollen größtentheils sehr rationalistisch sein, auch Schleiden und Burrmeister, von dem Giesner Voigt gar nicht zu reden, der völlig irreligiös ist. – Das || begreife ich nicht. Die Erkenntniß der Naturgesetze müßte m. E. immer religiöser machen. Ein solches Compendium von Naturgesetzen der Materie einverleibt hat für mich gar keinen Reitz, wenn sie nicht einen Beweis für die Weisheit Gottes bilden; und wo kommen denn die Gesetze her, sind sie ein für sich bestehender unabhängiger Geist? Das führt gar zur Vielgötterei, erst der menschliche Geist, für sich u. aus sich da stehend, dann der Naturgeist und wer weis wie viel Geister noch mehr!

Da wurde ich gestern Vormittag in der schönen Predigt von Sydow grade auf das Entgegengesetzte geführt. Er sprach von dem ächten christlichen evangelischen Glauben, wie er sich hauptsächlich in Luther gezeigt und setzte das Wesen des Glaubens auseinander, hervorgehend aus dem Gefühl der Hülfsbedürftigkeit gegen die Sünde, aus dem Gefühl der Schwäche und der Demuth und der Sehnsucht und wenn diese recht stark und innig wird, aus dem Einströmen des göttlichen Geistes in das sehnsuchtsvolle Herz und Stärkung deßelben zur Tugend, was die moralische Lehre als Rechtfertigung durch den Glauben „durch den Glauben gerecht werdend“ bezeichnet. Es war eine sehr schöne Predigt, sehr klar und anschaulich. Die Veranlaßung dazu aus dem Evangelio vom Hauptmann zu Capernaum hergenommen, wo Christus sagt: Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden. Er setzte dabei aus einander, wie die Geschichte des äußern Wunders dabei Nebensache sei gegen dasj, was im Gemüth des heidnischenk Hauptmanns vor sich geht, der auch schon längere Zeit im Judenthum die Einheit Gottes erkennt und sich im Vorfahr des rechten Glaubens gefunden, der nun bei dieser Gelegenheit entschieden hervorgetreten sei im Glauben an die Göttlichkeit des Erlösers. – Diese Glaubenssachen werden nur für den verständlich, welcher innerlich die Hülfsbedürftigkeit gegen die Sünde erkannt und indem er Stärkung bei Gott nach der Anweisung Jesu Christi nachgesucht, dieselbe gefunden hat. Vor Christo kannte man dieses Verhältniß zu Gott nicht, „niemand kommt zum Vater denn durch mich“ sagt Christus. Das wahre Ver- || hältniß des Menschen zu Gott, die göttliche Liebe ist uns erst durch Christum klar geworden, in welchem sich Gott auf das vollständigste geoffenbart hatte, in welchem die vollständigste Vereinigung mit Gott war und durch welchen wir erst zu dieser Grundanschauung Gottes, zur Hingebung an denselben und zur Erkenntniß der göttlichen Liebe gelangt sind. – Das alles will innerlich ererbt sein, und die Ereigniße und Prüfungen des Lebens führen uns zu Gott, den einen früher, den andern später. Vielen aber bleibt dieses Verhältniß verborgen, es gelangt nicht zu ihrem Bewußtsein, weil sie nicht aufmerken auf die Stimme, durch welche siel zu Gott gerufen und zu ihm hingezogen werden; weil sie leichtsinnig in die Welt hineinleben.m Wer aber mit Besonnenheit und Ernst durchs Leben schreitet, der vernimmt diese Stimme und wird zu Gott geführt. –

Wir haben hier sehr viel schlechtes Wetter gehabt, fast jeden Tag viel Regen; von Winter ist nicht die Rede, sondern nur von Regenzeit, während sich die Kälte nach dem Süden gezogen hat. Frau v. Lengerke, (die Tochter der Kalisky) ist deshalb von Nizza nach Palermo gegangen. – Ich werde nicht unterlaßen, in diesen Tagen (zum 29sten) n an die Kalisky zu schreiben.

Solltest du noch Pflege brauchen, so wende dich an Christel, die wird es gern thun. Sei nicht verzagt und brauche ja recht ordentlich den Leberthran. – Schreibe uns bald wieder.

Dein

Dich liebender Vater

Haeckel

Berlin 26/1 52

a gestr.: bin; b eingef.: schon; c eingef.: wahrscheinlich; d eingef.: in Halle; e gestr.: ich; f eingef.: ich; g gestr.: samke; h gestr.: wo; i eingef.: zu Weiss; j korr. aus: die; k eingef.: heidnischen; l eingef.: sie; m eingef.: weil sie leichtsinnig in die Welt hineinleben.; n gestr.: nach

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
26.01.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35415
ID
35415