Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Potsdam, 22. November 1891

Potsdam 22 November 1891.

Lieber Bruder!

Der heutige Tag – bei uns in Preußen Todtenfest, und unsrer lieben Alten Geburtstag zugleich – gemahnt mich doppelt Dir einen brüderlichen Gruß zu senden.

Wir haben an diesem Gedenktage manch schöne Stunde in unserm elterlichen Hause erlebt, unsre lieben Alten bleiben uns auch ferner die Vorbilder für unser Leben und damit ehren wir ihr Andenken am besten. Laß uns auch ferner treu zusammenhalten.

Für Deine neuliche Büchersendung besten Dank. Deine Anthropogenie ist bereits beim Buchbinder und sollen nächstens die von Dir bezeichneten Abschnitte auf Wunsch meiner Lesungsfreunde in unserem Kränzchen gelesen werden. Wir haben seit a einem Jahre den jetzt auf seinem Wunsch pensionirten Professor Spiecker vom Realgymnasium hinzugezogen, der in Mathematik u. Physik den Unterricht gab u. geistig noch recht frisch ist. Dieser || hat die Lektüre deines Buches angeregt.

Die andern Bücher habe ich vorgestern an Tante Berta persönlich überbracht. Sie wird Dir schreiben. – Es geht ihr ja im Ganzen gut; doch beschränkt sie sich mit Recht im Ausgehen. Größere Gesellschaften thun ihr nicht gut u. mit den Beinen hat das Ausgehen auch seine Schwierigkeiten. Ich war dann auch bei Schwägerin Helene Jacobi, die sich massiren läßt, um ihre Beine in bessren Stand zu bringen. Sonst ist sie munter. Den Mittag brachte ich bei Otto Müller in Tempelhof zu, bei dem ich lange nicht gewesen war, u. den Abend in Mariendorf, zu meines Patchens Aenni u. ihrer Schwester, der Doktorin Magscheider Geburtstag. Hahn’s waren auch da. Wir hatten mit Richter lebhafte Zeitgespräche. Das Selbstherrscherthum tritt auf den verschiedenen Gebieten mehr u. mehr hervor und gewinnt das Volk nicht für sich. Die Zeiten sind vorüber. Wenn die Minister zu sehr nachgeben, werden wir noch recht bittere Erfahrungen machen. Es sollen die Neuerungen || überhastet werden. – Sonst auchb war die verflossene Woche für mich recht verschiedenartig in Anspruch nehmend: am Sonntag den 15t war ich Vormittags in Berlin, um den Legations Sekretär von Waldhausen (Freund von meinem Heinz, den er herzlich grüßen läßt) zu sprechen. Er ist seit 14 Tagen auf Urlaub in Deutschland, muss aber schon in 8 Tagen nach Japan zurück, weil der dortige Gesandte nach New York plötzlich versetzt ist und Waldhausen ihn bis zur Ankunft des Nachfolgers, der von Chile kommt, vertreten muß. Waldhausen theilte mir u. Julius in kurzer Plauderstunde doch so manches Interessante über Japan mit; auch über seine Besteigung des Fujijama, eines hohenc Wallfahrtsberges ähnlich dem Adamspik auf Ceylon. – Am Mittwoch den 18t hielt hier Dr. Spinner, seit Juli aus Japan, wo er 5½ Jahre war, zurückgekehrt, einen ergreifenden Vortrag über „Christenthum in Japan u. Indien“; dessen Kern war, daß wir in jenen Ländern nicht bloß Handel, Technik u. Wissenschaft, sondern vor allem sittlich-religiöses Leben als die Grundlage einer gedeihlichen Weiterentwicklung und Auffrischung dieser Nationen bringen müßten. ||

Er behandelte nachher, in einer geselligen Vereinigung bei Prediger Ritter, dasselbe Thema in einer freien Allegorie (von den 4 Wanderern, deren 4ter, das Christenthum, diese beiden Völker allein zur wahren gedeihlichen Entwicklung führen könne.) Spinner ist seit Ende October Superintendent in Ilmenau u. wird nächstens seine Braut, eine Züricherin, mit der er sich kürzlich verlobt hat, heimführen. Waldhausen sprach mit großer Anerkennung über Spinner’s Wirksamkeit in Japan; man wird ihn dort sehr vermissen. Aber er bedurfte der Erholung nach 5jähriger aufreibender Thätigkeit.

Und nun, zum Gegensatz, hatte ich in derselben Woche dreimal Schwurgericht, zweimal im Beisitzd, wegen Brandstiftung u. bzw. Mordes und einmal Vorsitz, wegen Meineids. Da traten mir die Schäden in unsrer eignen Nation recht vor Augen: sittliche Verkommenheit u. wahrhaft thierische Wuth bei dem || Mörder der eignen Frau, einem Quartalssäufer aus dem Arbeiterstande (er wurde nur des Totschlags schuldig befunden und bekam 15 Jahre Zuchthaus) und andrerseits Verderbtheit eines halsabschneiderischen Wucherers aus der Stadt Dahme in der die Meineide epidemisch sind. Er wurde freigesprochen, weil die Belastungszeugen ebensowenig taugten, wie er und seine Sippe –

Nun genug. Wie steht es mit dem 28. Dezember? – Wir erwarten noch bestimmte Einladungen, wenn auch voraussichtlich von meinen Kindern nur einzelne kommen werden. Mit Gruß an die Deinen u. meinen Heinz

Dein

treuer Bruder

C. Haeckel

a irrtüml. doppelt: seit; b eingef.: auch; c eingef.: hohen, d gestr.: einmal als; eingef.: zweimal im Beisitz

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
22.11.1891
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35273
ID
35273