Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 15. Mai 1861

[egh. Tuschezeichnung Ansicht des Jenzig]

Jena 15. 5. 61.

Der prächtige „hohe Genzich“, mein Liebling, mein lieber süßer Schatz, soll Dir diesmal statt meiner einen recht frischen herzigen Pfingstgruß zurufen. Zwar kann ich Dir mit meinen paar Federstrichen nur ungefähr die prächtige Form des Berges vor Augen stellen, wie er mir grade zum einen Fenster meiner reizenden Wohnstube hineinschaut, und kann Dir nicht dazu die wunderschönen Farbentiefen hinzaubern, in denen er bald mehr roth, bald mehr violett oder blau, im Abendscheine herüberglänzt; aber ich denke schon die bloße Form der wunderschönen Gipfelung wird Dir einen Begriff davon machen, welchen Genuß mir hier die liebe Natur bescheert hat und täglich mit neuer Freude bietet. Dieser reine und intensive Naturgenuß muß mich für die bittere Entbehrung trösten, die ich durch die neue Entfernung von Dir leide, liebstes Herz! Freilich wie ganz anders würden die Berge, die Bäume und das ganze liebe Saalthal mich ansehen, wenn ich all den Genuß mit dem besten Herzen theilen könnte, das mir denselben stets verdoppelt. ||

Zur Erläuterung der kleinen Skizze füge ich nur noch hinzu, daß der hohe Genzich der höchste u. schönste der hiesigen Berge ist, 700´über der Thalsohle, und da diese bereits 400´über dem Meere liegt, 1100 Fuß ü. M. Er liegt zwischen dem langgestreckten Rücken der Kunitzburg mitten inne und ist die größte Zierde meiner Frontaussicht. Die kleine Kapelle im Thale trägt als Mittelgrund nicht wenig zur Ausstaffirung des reizenden Bildchens bei. Das Thal wird seit dem heftigen Gewitter, das wir vorgestern hatten, mächtig grün. Das Wetter ist aber zu seltsam. Vor 14 Tagen noch alle Berge mit Schnee bedeckt; dann die 3 Tage nach Himmelfahrt plötzlich das heiterste Sommerwetter, mit wahrhaft drückender Hitze, ein Temperaturunterschied von 12-15° R gegen die vorhergehenden Tage, bis zu 24° im Schatten. Dann Montag Nacht ein mächtiges Gewitter mit colossalen Niederschlägen, welches einen bedeckten Himmel und fast eben so niedere Temperatur, als vorher, hinterlassen hat, so daß man seit 6 Tagen immer zwischen 8-12 und 18-24° im Wechseln ist. ||

Ich werde diesmal den Brief, der Dir zu dem lieben, frohen Pfingstfest meinen innigsten besten Gruß bringen soll, lieb Herz, schon einen Tag früher senden, damit Du am Festsonntag nicht wieder so lang zu warten brauchst, wie leider das letzte Mal. Ich habe dagegen diesmal Deinen lieben Brief grade in der Stunde erhalten, wo ich ihn erwartete, nämlich gestern Abend, nachdem ich mit Gegenbaur einen Spaziergang gemacht. Ich ging, bloß in der Erwartung, noch einen Brief zu finden, nach Hause, ehe ich wieder zu Gegenbaur ging. Und richtig war er eben angekommen und brachte mir den frischen und erfrischenden Gruß meines lieben Herzensschatzes. Ich sehe daraus, daß Dir der Aufenthalt in Freienwalde Freude gemacht hat und wünsche von Herzen dasselbe für Ziegenort und Heringsdorf. Hoffentlich wird inzwischen das warme Sommerwetter dauernd die Oberhand gewinnen. Mein angefangnes Sommerstillleben nimmt indeß ungestört u. regelmäßig seinen Fortgang. Du glaubst nicht, wie wohl mir diese Einsamkeit und ununterbrochene Stille hier thut, wie ganz anders sich hier arbeiten und denken läßt, als in dem wüsten, ungemüthlichen Berlin, wo tausend verschiedene Angelegenheiten, besonders in der letzten Zeit, mich ganz distrahirten. Je länger ich mich hier einlebe, desto mehr finde ich, wie diese Verhältnisse meiner Eigenthümlichkeit in erhöhtem Maaße entsprechen, und wie ich Alles fast, was ich hier gehofft, verwirklicht finde, und dazu noch vieles Andere, was Manchem als Schatten-, mir aber grade als Lichtseite an Jena erscheint. Ich glaube, meine Natur-Natur würde an keiner andern deutschen Universität solche Befriedigung finden! ||

Zunächst bin ich sehr froh, daß ich endlich einmal ganz ungestört hintereinander fortarbeiten kann. So wie hier täglich von 5-2 habe ich bisher nur in Messina gearbeitet. Keine menschanseele stört mich, da die Jenenser zum Glück die Entfernung meiner Wohnung für viel zu groß halten, als daß sie mir viel Besuche machen könnten. Auch hält zum größten Glück das Bekanntwerden meiner Verlobung, für welches ich meine Freunde nach Kräften wirken lasse, sehr viele Einladungen u. Besuche ab, denen ich sonst gar nicht würde entgehen können. Natürlich wird auf keine andern „Schwiegersöhne“ hier so eifrig Jagd gemacht, als auf Privatdocenten. Nächstdem ist mir auch endlich die Entfernung aus dem unendlichen Kreise der lieben Berliner „Familie“ äußerst angenehm. Denke ich daran, welchen Anstoß ich alle der lieben Onkeln u. Tanten, Vettern u. Basen in Berlin stets erregte, ich mochte es anfangen, wie ich wollte, so a kömmt mir das Glück der hiesigen Isolirung erst recht zum Bewußtsein. War doch zuletzt selbst das sonst so innig geliebte Elternhaus, mit welchem ich von kleinauf an so innig verwachsen bin, in gewisser Hinsicht für meine gedeihliche Entwicklung zur männlichen Selbstständigkeit nachtheilig und mit meinem individuellen Streben unvereinbar geworden. Es war hohe Zeit, daß ich aus alle dem mit einem Schlage heraus kam, und ich fühle jetzt täglich mehr, wie gut es mir bekömmt, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Dazu gewöhne ich mich nun schon in meine officielle Thätigkeit so ein, daß sie mir von Tag zu Tag lieber wird und daß ich nie mehr, als jetzt, mit der Wahl des akademischen Berufs, zufrieden war. ||

II.

Das Einzige, was mir zur Erreichung einer wirklich glücklichen Existenz, zur Verwirklichung meiner Ideale noch fehlt, bist Du, liebster Schatz, und dieser Mangel ist allerdings so fühlbar, daß ich doch keine der vielen schönen Lichtseiten Jenas ganz rein genießen kann. Bei jeder Freude über das stille, einsame Naturleben drängt sich sofort der zweite Gedanke auf: „Ja wie wäre das Alles, wenn Du Deine Änni dabei hättest!“ Und dann kommt immer die ungeduldige Frage: „Wann wird denn das endlich eintreten und wann wird das arme unstete Herz endlich zur ersehnten Ruhe gelangen?“

„Wie lang noch willst Du zögern, b

Du heiß ersehnter Tag,

Wo hier in meine Arme

Mein Lieb’ ich schließen mag?

„Wo in das liebe, traute,

so einsam stille Thal

Ich jubelnd ein darf führen

die Änni, mein Gemahl?

„Wo endlich Ruh wird finden

nach so viel bangem Schmerz

das sehnsuchtsvoll bewegte

unruhig wilde Herz!

„O komm, o komm, erscheine

und zögre nicht zu lang

Beglück die beiden Herzen,

Die c noch getrennt sind bang! ||

Wie ich aus Deinem letzten Briefe herauslese, liebster Schatz, bewegt dieser Gedanke auch Dich, wie mich, täglich u. stündlich. Ich wünschte, ich könnte uns zum schönen Pfingstfest irgend eine sichere Aussicht für den Herbst aufbauen. Indeß sind meine süßen Hoffnungen seit der Zeit meiner Anwesenheit auch nicht um ein Fünkchen genährt worden. Was die Erlangung der Professur im Herbste, also die Hauptsache betrifft, so wird sie mir im Gegentheile immer unwahrscheinlicher. Direct gesprochen habe ich darüber weder mit Seebeck noch mit Gegenbaur und es würde dies auch zu gar Nichts helfen. Gegenbaur mit dem ich übrigens auf dem besten Fuße stehe, ist so eigenthümlicher Natur, daß jeded von außen kommende Anregung immer eher das Gegentheil bei ihm erreicht; er will durchaus Alles von selbst, und völlig unabhängig thun.

Ich vermeide es daher auch sorgfältigst, irgendwie ein Gespräch mit ihm hierüber zu provociren. Ich darf dies um so weniger als ich einerseits das vollste Vertrauen zu ihm habe, daß er für mich thun wird, was er irgend kann, u. als ich andrerseits schon so sehr ihm verpflichtet bin, daß es ihn nur verletzten würde, würde ich Etwas von ihm begehren, was er doch nicht gewähren kann. Die ganze äußerst angenehme Stellung, die ich jetzt schon hier einnehme, den äußerst günstigen Anfang der akademischen Laufbahn, wie er gewiß höchst selten einem Docenten in dieser Art geboten wird, verdanke ich ihm, und ehe ich Weiteres von ihm bitten und wünschen kann, wird es meine Pflicht sein, einen Theil der Dankesschuld wenigstens abzutragen. Ich bemühe mich daher, ihm zu helfen und bei seinen academischen Arbeiten zu assistiren, so viel u. so gut ich kann. ||

Gegenbaur selbst ist ein so höchst eigenthümlicher Mensch und daher auch mein ganzes Verhältniß zu ihm so eigener Art, daß ich es Dir unmöglich schriftlich auseinandersetzen kann. Gegenbaur ist ein so durchaus strenger und rein wissenschaftlich strebender Character, daß diese Seite, sein höchst energisches und vielseitiges, und fast absolutes wissenschaftliches Streben, alle andern Menschenseiten in den Hintergrund drängt. Er ist ungefähr das, was ich als Student, ehe ich die Liebe und die warmen Gemüthsseiten der Menschennatur kennen und über Alles schätzen lernte, stets zu werden bestrebt war, ein starker, selbstständiger Mann, der mit eiserner Consequenz sich einzig u. allein seiner Wissenschaft hingiebt und dieser ganz u. im edelsten Streben lebt. Dafür fehlen ihm freilich auch alle die reizenden Lebensgenüsse, alle die ausgebildeten Seiten des warmen Menschengemüthslebens, welche ich erst im Liebesleben mit Dir, liebster Schatz, kennen gelernt habe und welche jetzt meine wissenschaftlichen Bestrebungen gänzlich überwogen und entschieden in den Hintergrund gedrängt haben.

So wenig ich wieder der alte Ernst zu werden vermag, so wenig ich die Liebe u. all ihr Reizendes u. Herrliches abzustreifen vermöchte, selbst wenn ich es wollte, so wenig vermag Gegenbaur diese Seite meiner Natur zu begreifen und es sind das eben 2 Standpunkte auf denen wir diametral gegenüberstehen. Ich vermag auf keine Weise mich zu jenem idealwissenschaftlichen Streben wieder emporzuschwingen, von dem ich früher allein u. ausschließlich beseelt war.

Du, süßes Herz, bist jetzt immer u. überall mein Erstes u. mein Letztes, und erst nach Dir kommt alles Andere an die Reihe. || Wie jedes Ding im Menschenleben, so hat ja auch das Liebesleben seine Licht- u. seine Schattenseiten. Und wenn ich einerseits Gegenbaur gegenüber, das hohe Glück, das mir durch Deinen Besitz wird, liebstes Herz, aufs lebhafteste empfinde und um keinen Preis mit Gegenbaur tauschen möchte, so fühle ich doch auch andrerseits grade Gegenbaur gegenüber, wie sehr mein wissenschaftliches Leben u. Streben unter der Liebe gelitten hat. In dieser Beziehung werden mir erst jetzt die ganz gewaltigen Lücken klar, welche ich in den letzten Jahren, wo ich nur Dir lebte, in meinen wissenschaftlichen Kenntnissen habe einreißen lassen. Sie sind in der That höchst bedenklich u. wäre ich noch der alte übergewissenhafte Ernst, so könnte ich darüber verzweifeln.

So indessen, wie ich jetzt bin, setze ich mich darüber hinweg, und suche die entstandene Bresche auszubessern, so gut ich es mit meinen besten Kräften vermag. Gegenbaur, der offenbar in mir noch den alten Haeckel wie er ihn in Würzburg kannte, vermuthet hat, mit einem wissenschaftlichen Feuereifer ohne Gleichen, ist jetzt zuweilen über die Abnahme desselben unter dem Gewichte der Liebe, und über die in den letzten Jahren entstandenen Lücken meines Wissens höchst erstaunt, und doch suche ich ihm diese wissenschaftlichen Schwächen noch möglichst zu verbergen und hoffe nicht, daß er ganz dahinter kömmt, ehe es mir gelungen ist, sie wenigstens einigermaßen wieder auszubessern. Die schlimmen Befürchtungen, die ich betreffs dieses Punktes in Berlin schon hegte, sind aber allerdings nichtig und wie ich Dir schon dort mehrmals sagte, hegt in der That Gegenbaur ganz übertriebene Hoffnungen von meiner wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit.

III.

Ich schreibe Dir über dieses, wie über Alles, was mein Herz bewegt, ganz offen, liebster Schatz, da ich Dir nun einmal nicht die geringste Falte meines Herzens verbergen kann. Ich muß Dir ja immer Alles sagen, selbst wenn es Dich ein wenig betrüben sollte! Da Du die Wonne meines hiesigen Naturlebens auch in der weiten Ferne mit mir fühlst, mußt Du Dirs auch gefallen lassen, das Schwere meiner hiesigen Stellung mit mir zu theilen. Der besprochene Punkt, daß ich e den viel zu hoch gespannten Erwartungen, die Gegenbaur von meiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit hegt, nicht entsprechen kann, ist in der That der Hauptkummer, ja der einzige Kummer, der mich jetzt hier drückt, zumal sich damit die Befürchtung verbindet, daß in Folge dessen auch unsere Vereinigung noch hinausgeschoben werden kann. Der Gedanke könnte mich ganz unglücklich machen, wenn ich noch, wie früher, die Neigung hätte, mich selbst zu quälen. Diese ist glücklicherweise überwunden und ich nehme jetzt das schwere Verhältniß als fait accomplit, vergessef die Verhältnisse der Vergangenheit, so gut ich kann, und strebe allein, die Mängel der Gegenwart auszubessern, um trotz alledem wo möglich recht bald eine bessere Zukunft herbeizuführen. Vom Erfolg dieser ernstlichen Bemühungen wird dann wesentlich nähere nächste Zukunft, d.h. die Schritte, die Gegenbaur für dieselbe thut, abhängen. Hoffentlich kann ich Gegenbaur bei näherem Bekanntwerden überzeugen, daß ich trotz der sehr mangelhaften Kenntnisse doch vielleicht nicht ganz unbrauchbar bin, besonders wenn es mir gelingen sollte, durch allmähliche Ausbildung meines Lehrvortrags mich als tüchtiger akademischer Lehrer zu erweisen, wozu ich immer noch Hoffnung habe. || Abgesehen von diesem verschiedenen Standpunkte in der Stufenleiter wissenschaftlicher Ausbildung, deren Differenz ich übrigens viel lebhafter, als Gegenbaur fühle, verstehe ich mich mit letzterem ganz vortrefflich. Zunächst bin ich ja hier der Einzige, mit dem er über Sachen unseres Specialfaches, das ihn doch vor Allem interessirt, überhaupt sprechen kann. Dann ist der dritte in unserm Bunde, Bezold, in diesem Semester so sehr durch ein Übermaaß von Vorlesungen in Anspruch genommen, daß wir ihn, außer beim täglichen Mittagstisch, fast gar nicht sehen. So sind also Gegenbaur und ichg wesentlich auf unsern gegenseitigen Umgang angewiesen, in dem er mir natürlich viel mehr geben kann, als ich ihm. In den allgemeinen Lebensanschauungen und namentlich in allen Principienfragen stimmen wir ganz überein, so daß in dieser Beziehung keine Differenzen entstehen werden. Im Ganzen ist Gegenbaur aber ein noch viel schlimmerer Pessimist, als ich selbst. Dieser Pessimismus giebt ihm auch, verbunden mit der geraden Offenheit, mit der er den Leuten stets die klare Wahrheit sagt, und einem etwas rauhen und abstoßenden, oft fast bäurisch- rohen Benehmen, etwas Unliebenswürdiges, dessenhalben er hier nur wenig Freunde hat und sehr zurückgezogen lebt. Ich selbst stoße mich an diesen äußerlichen Ecken natürlich gar nicht, da ich auf eine rohe Außenseite ja überhaupt nicht das geringste Gewicht lege; ich halte mich bloß an den innern edlen Kern, und dieser ist bei Gegenbaur, ganz im Gegensatz zu seinem Äußern, so trefflich, so gediegen, daß ich mir ihn in den meisten Hinsichten h zum Muster nehmen kann. ||

Einen ganz speciellen Berührungspunkt haben wir außerdem ja noch in unserer italienischen Reise und wenn wir auf dieses Gebiet kommen, haben wir in der gegenseitigen Rückerinnerung eine reiche Quelle schönsten Genusses. Gewöhnlich gehe ich alle 2, 3 Tage noch nach Schluß des Collegs i auf die Anatomie und hole Gegenbaur zum Spazieren gehen ab. Da er fast ein eben so großer Naturfreund, als ich, und dieser Genuß hier sein einziges Vergnügen ist so stimmen unsere Neigungen auch hierin trefflich überein und wir erläutern und erhöhen unsern Genuß durch gegenseitigen Austausch wesentlich. Durch alles dies hoffe ich Gegenbaur mit der Zeit noch recht nahe zu treten und mich an ihm heranzubilden. Auch das ist ein so günstiges Verhältniß, wie es sonst selten geboten wird. Andere Bekanntschaften werde ich wohl wenig cultiviren. Doch gehe ich jetzt 2mal wöchentlich (Dienstag und Donnerstag nach dem Colleg, von 6–7) in den Professoren-Turnverein, wo ich mich gestern habe aufnehmen lassen. Es sind etwa 25 Mitglieder, meist Docenten; auch Ernst Reimer ist dabei. Da ich j der längste von Allen bin, stehe ich an der Spitze als No 1. Diese energische Leibesbewegung thut mir sehr wohl. Größere Spaziergänge werden wohl auf den Sonntag beschränkt bleiben. Letzten Sonntag wollten wir den Genzich ersteigen und ringsum wandern.

Es war aber so heiß und schwül, daß wir am Fuße in einem Tannenwalde liegen blieben und nachher nur noch in der Ebene nach Kunitz und im Thale in der schönen Abendkühle zurückwanderten. ||

Was den hier herrschenden politischen u. religiösen Ton, besonders unter den Akademikern, angeht, so behagt mir der sehr; die Leute sind durchgängig, fast ohne Ausnahme, sehr liberal, die Theologen z.B. fast alle entschiedene Rationalisten, so daß sie in Preußen ganz anrüchig sind, gewiß ein gutes Zeichen! Ich hoffe hier ein Vaterland zu gewinnen, das ich lieben und achten kann, während ich mich meines bisherigen schämen und es verachten muß. Was ist bei uns elender, der König, die Minister, oder die Kammern? ‒

Ich weiß es nicht; so viel weiß ich aber, daß wir keine bessere Freiheit verdienen, wenn wir solche schmachvolle Zustände ruhig ertragen. Die scandalösen Patzke-Geschichten übersteigen doch alles Maaß! Und doch scheinen sie Nichts zu helfen!! ‒

Du fragst, liebster Schatz, ob mein Pinsel auch zuweilen thätig wär? ‒ Der ruht ganz, und wohl auf lange, lange Zeit. Ich habe jetzt weder Ruhe noch Muße zum Malen. Die Zeit ist so kostbar, daß ich selbst die beabsichtigte Pfingstexcursion auf 1, höchstens 2 Tage beschränken werde, um endlich einmal in den Ferien den allgemeinen Radiolarientheil fertig zu machen. Gestern bekam ich den ersten Aushängebogen, der sehr hübsch ist, und auch den zweiten Correcturbogen. ‒ Komme ich einmal zum Malen, so muß ich zunächst für Gegenbaurk das große Panorama von Messina copiren, worüber er ganz entzückt war. Das wird aber wohl noch lange dauern! ‒

Grüß Mutter und alle Ziegenorter herzlich. Vergnügtes Fest liebster Schatz, und glückliche Reise. Dazu herzt u. küßt Dich aufs Innigste Dein treuer, lieber Erni. ‒

a gestr.: glei; b gestr.: di; c gestr.: Dich; d korr. aus: jeder; e gestr.: l; f irrtüml.: vergessene; g gestr.: Bezold; eingef.: ich; h irrtüml. doppelt.: mir; i gestr.: zur; j gestr.: b; k korr. aus Gegu;

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
15.05.1861
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 33155
ID
33155