Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Harald Krabbe, 5. Januar 1912

Jena. 5. Januar 1912

Lieber Freund Krabbe!

Dein lieber, heute erhaltener Neujahrsbrief war mir eine grosse Freude und ich beeile mich, ihn zu erwidern. Ich freue mich zu hören, dass du trotz deines Augenleidens noch Freude am Leben und an deiner Familie hast – ja, sogar im letzten Sommer noch eine Reise nach Island machen konntest

Ich habe einen sehr schlechten Sommer hinter mir, da die Folgen meines schweren Unfalls (am 20. April) noch fortdauern. Ich kann nur wenige Schritte (auf 2 Stöcken) gehen, da das linke Bein um 2 Ctm. verkürzt und das Hüftgelenk immer noch sehr schmerzhaft und wenig beweglich ist. Die Folgen mehrfacher früherer Verletzungen desselben Beins, bei zunehmendem Marasmus senilis, mit fast 78 Jahren, machen sich sehr unangenehm fühlbar. Meine Augen sind glücklicherweise noch gut, so dass ich viel lesen und schreiben, auch malen kann. Aber mit dem Reisen ist es leider vorbei.

Meine Frau, die viele Jahre sehr leidend war, hat sich in letzter Zeit erholt, so dass sie mich pflegen kann. Mein Sohn, Maler in München, ist glücklich verheirathet und hat 2 Töchter. Meine ältere Tochter Elisabeth, in Leipzig, hat auch 3 Töchter; ihr Mann, Prof. Hans Meyer (Chef des Bibliogr. Inst. in Leipzig) ist soeben glücklich von einer 6 monatlichen geographischen Erforschungsreise in Ost-Africa (Viktoria-See und Kiben-See) mit schönem Erfolge zurückgekehrt. Unsere jüngere Tochter muss leider wegen eines unheilbaren Nervenleidens dauernd in einem Sanatorium bleiben. Seit meinem Rücktritt vom Lehramt (vor 3 Jahren) kann ich nicht mehr wissenschaftlich arbeiten. Ich beschäftige mich noch mit Schreiben meiner Lebenserinnerungen. Dabei denke ich mit besonderem Vergnügen an den schönen Sommer 1857 in Wien, wo wir mit Freund Wilhelm Focke so glücklich botanisirten || und die schöne Natur genossen!

Mein letztes Buch, „Welträtsel“ 1899, hat noch immer grossen Erfolg; es sind jetzt 300000 Exemplare von der deutschen Auflage verkauft, noch mehr von der englischen, ausserdem 20 verschiedene Uebersetzungen.

Mit herzlichsten Glückwünschen für das neue Jahr bleibe ich stets in treuer Freundschaft

Dein alter

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
05.01.1912
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
33133