Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Paul von Rottenburg, Jena, 12. Januar 1912

Jena 12. Januar 1912.

Liebster Freund!

Dein großartiges Pariser Gedicht hat mich hoch erfreut, und in die herrlichen Tage zurückversetzt, die ich im October 1900 mit Dir und Heinrich in der Weltstadt an der Seine genießen konnte – dank Deiner unerschöpflichen Güte und Liebenswürdigkeit! Daß Du auch noch ein „gottbegnadeter“ Dichter bist – neben allen Deinen sonstigen vorzüglichen Eigenschaften! – ist erstaunlich! Wie gerne würde ich jene schönen „Tage von Aranjuez“ – mit den reizenden Lustspielgenüssen im Theater Royal! – noch einmal wiederholen! Aber leider wird das bei meinem invaliden Zustande wohl nicht mehr möglich sein. ||

Der unglückliche Sturz am 20. April vorigen Jahres scheint mich für immer lahm gelegt zu haben. Noch heute kann ich nur wenige Schritte gehen, mühsam auf 2 Stöcken und mit Schmerzen. Auch ist der Mangel an Körperbewegung von schlechtem Einfluß auf mein sonstiges Befinden, Schlaf etc. Mit den schönen Reisen wird es also wohl für immer vorbei sein!

Ich genieße nur noch in Erinnerungen die Vergangenheit, und schreibe an meinen „Memoiren“; da erscheint natürlich mein liebster Freund Paul – der seit 26 Jahren meine „Vorsehung“ geblieben ist – (– Challenger „Radiolarien“, Glasgow 1876!! –) in bengalischer Beleuchtung! ||

Für Deine gütige Absicht, mein sterbliches Leibesgerüst in ein schönes neues „Harris Tweed“ zu kleiden, danke ich Dir herzlich! Ich bitte Dich aber davon abzusehen, da Dein letzter Anzug (von Anno 1911) noch fast unbenutzt im Kleiderschrank hängt. Da ich seit 9 Monaten nicht mehr ausgehen kann, trage ich nur noch meine alten Sachen auf.

Wenn Du mich zu meinem 78sten Geburtstage (– dem letzten oder vorletzten? –) noch durch eine freundliche Gabe erfreuen willst, so möchte ich um einige Büchsen Deiner vortreffliche Scotch Marmelade bitten (Orange oder auch Erdbeer), die bei uns nicht so gut zu haben sind. ||

Schwester Röschen, deren Gesundheit sich im letzten Jahre glücklicherweise gebessert hat, grüßt Dich mit mir herzlichst, und hofft, Dich im Laufe des Sommers sicher hier zu sehen.

Treulichst Dein alter Ernst Haeckel.

P.S. Heute ist das ganze Deutsche Reich in großer Aufregung ob der Reichstags-Wahlen; wahrscheinlich werden sie sehr rot ausfallen, dank der unverbesserlichen politischen Unfähigkeit des deutschen Michels und seiner Regierung, und der Tyrannei des „Schwarzblauen Blocks“!

Es scheint aber, daß die ganze Welt aus den Fugen geht: „Republik China“!! Oxenstjerna hat Recht: „Geh hin mein Sohn, und siehe, mit wieviel Unverstand die Welt regiert wird“!

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
12.01.1912
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 32930
ID
32930