Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 20. Februar 1874

Jena 20. Februar 74

Lieber und hochverehrter Freund!

Durch Deinen liebenswürdigen und ausführlichen Brief hast Du mir an unserem beiderseitigen Geburtstage eine große Freude bereitet und ich danke Dir herzlichst dafür. Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, daß auch Du am 16. Februar geboren bist, so wäre ich Dir selbstverständlich mit meinen herzlichsten Glückwünschen zuvorgekommen, die ich Dir jetzt nur nachträglich senden kann. Mögest Du Dich noch lange eines rüstigen Alters im Kreise der lieben Deinigen erfreuen und mit demselben lebendigen Interesse, wie bisher, den Fortschritten der Wissenschaft folgen, uns Jüngeren Allen ein leuchtendes Beispiel und beständiges Vorbild! ||

Ich habe mein fünftes Decennium nicht gerade in erfreulicher Weise begonnen, da ich seit 14 Tagen im Bette steckte und erst seit gestern wieder aufgestanden bin. Wir haben hier eine sehr unangenehme Influenza-Epidemie, an der fast die Hälfte der akademischen Collegen krankt, und der auch ich nebst Familie habe Tribut zahlen müssen. Immerhin ist eine solche Grippen-Epidemie, wenn auch recht unangenehm, doch besser als die beständige Cholera-Gefahr, von der Ihr in München schon seit mehr als einem halben Jahr bedroht seid. Die bekannte schöne „Gemüthlichkeit“ des Münchner Lebens leidet darunter gewiß sehr. Unser hiesiges Klima gilt sonst im Ganzen für sehr gesund; bisweilen kommen aber doch derlei Erkältungskrankheiten recht heftig und zu Zeiten eben auch epidemisch vor. ||

Deine Ansichten über Mimicry sind mir ganz aus der Seele geschrieben. Es wird mit diesem Begriffe jetzt ein wahrer Mißbrauch getrieben und werden eine Masse ganz verschiedener Verhältnissea darunter subsumirt, die zum Theil gar Nichts mit einander zu thun haben. Wie Du ganz richtig sagst, kann niemals daß „nachahmende“ Thier als mit Bewußtsein, zum Zwecke seines Schutzes handelnd, angesehen werden. Es fehlen ja auch alle physiologischen Anhaltspunkte, um eine willkürliche und bleibende, sogar erbliche Änderung in Farbe und Zeichnung der Haut in diesem Sinne anzunehmen. Ich kann mir eine solche Mimicry immer nur als einen speciellen Fall der „sympathischen Färbung“ vorstellen, also ganz unbewußt, ohne jeden praemeditirten Zweck, lediglich durch natürliche Züchtung mechanisch hervorgebracht. || Ich fürchte, daß durch dieb falsche Auffassung der Mimicry als einerc activen, mit Bewußtsein von dem copirenden Thiere intendirten Lebensthätgkeit noch sehr viel Mißverständnisse entstehen werden. Das ist aber nun einmal nicht zu vermeiden. Geschieht doch dasselbe auch mit allen anderen Theorien, wie z. B. auch mit der Selections-Theorie selbst, und mit ihrer Triebfeder, dem Kampf um’s Dasein. Welche Masse von halbwahren und ganz falschen Vorstellungen sind darüber neben der richtigen Anschauung im letzten Decennium aufgestellt und verbreitet worden. Die meisten Mißgriffe der Art entstehen aus ungenügendem Nachdenken. Man muß aber den Leuten Zeit lassen zum Nachdenken. Zuletzt kömmt die Wahrheit immer zu ihrem Rechte. ||

In Betreff des Leucochloridium theile ich vollkommen Deine Ansicht, daß da von eigentlicher Mimicry nicht die Rede sein kann. Als ob d nun auch alle Färbungen und Zeichnungen durch diesen einen Factor hervorgebracht sein müßten. Wissen wir doch, daß das in vielen Fällen ganz bestimmt nicht der Fall ist.

Ich würde übrigens beie dem Druck der fraglichen Abhandlung in Deiner Zeitschrift nichts Bedenkliches finden. Ist in derselben doch auch der erste Vortrag unseres Freundes Kölliker über die Darwinsche Theorie abgedruckt, welcher von Anfang bis Ende von einem vollständigen Mißverständniß derselben zeugt und viel schlimme und abentheuerliche Fehlschlüsse enthält. Auch er hat nicht Vielf geschadet. Die Leser werden dadurch doch meistens zum Nachdenken über die Sache angeregt. ||

Ich hatte selbst schon lange die Absicht, die Mimicry einmal kritisch zu behandeln; meine morphologischen Aufgaben ziehen mich aber immer mehr an. Hast Du aber nicht vielleicht Lust, (vielleicht in einem Anhange zu der Leucochloridium-Arbeit) die Sache aufzuklären? Du könntest es viel besser als ich, und besitzt ja in Deinen g reichen biologischen Kenntnissen – besonders der Insecten-Oeconomie – das schönste Material dazu! Es wäre der Sache damit ein rechter Dienst erwiesen!

Die Angriffe von Mecznikoff im I. Hefte des neuen Bandes Deiner Zeitschrift haben mich nicht überrascht. Die Gastraea-Theorie wird davon noch mehr und auch besser ausgeführte auszuhalten haben; h und wird sie, hoffe ich – alle glücklich überstehen! ||

Mecznikoffs Arbeiten sind sämmtlich so unreif und überflüssig, so wenig durchdacht, daß seine Angriffe keinen Schaden anrichten. In diesem speciellen Falle habe ich die Entgegnung sehr leicht. Seinei unglaublichen Mißverständnisse und Fehlschlüsse sind mir nur dadurch erklärlich, daß er meine Angaben mit dem flüchtigsten Leichtsinn durchblättert hat. Ich werde Dir in den nächsten Tagen eine kurze Entgegnung schicken und Dich bitten, sie in das nächste Heft der Zeitschrift aufzunehmen.

Von anderen Seiten, und zwar von solchen, auf die ich etwas mehr Werth lege als auf Herrn Mecznikoff – z. B. von Huxley, O. Schmidt, Hasse, Weismann etc. – hat gerade meine Gasträa-Theorie besonderen Beifall und lebhafte Zustimmung gefunden. ||

Deiner hochverehrten Frau Gemahlin bitte ich meine ergebensten Grüße auszurichten. Damit sie meine Familie vollständig hat, sende ich ihr beifolgend noch die Photographie meiner Frau, und darf dagegen wohl auch um die ihrige bitten.

Nochmals die freundlichsten Glückwünsche zum Beginn Deines achten Decenniums!

In alter Verehrung und

Freundschaft

Dein

Haeckel

a gestr.: Meinungen; eingef.: Verhältnisse; b korr. aus: sie; c korr. aus: eines; d gestr.: a; e korr. aus: gegen; f gestr.: Nichts; eingef.: nicht Viel; g gestr.: b; h gestr.: da; i korr. aus: Seinen

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
20.02.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32694
ID
32694