Dodel-Port, Arnold

Arnold Dodel-Port an Ernst Haeckel, Zürich, 10. Februar 1895

Villa Erica,

Oberstraß/Zürich

10.II.1895.

Herrn Prof. Dr. Ernst Haeckel, Zoologisches Institut, Jena.

Hochverehrtester Herr College!

Besten Dank für die Zusendung Ihres Aufsatzes in der „Zukunft“ – Die Wissenschaft und der Umsturz.

Ich las davon schon Einiges in den Zeitungen und hatte daher eine große Freude, denselben im Original zu erhalten. Das Document ist fürwahr ein historisch werdendes Zeichen der Zeit. Dahin mußte es in Deutschland kommen, daß die Wissenschafter [!] sich nun auch noch ihrer Haut, resp. der Freiheit der Wissenschaft und Lehre wehren müssen – – gegen das herrliche Parlament, so den Namen Reichstag führt und in Wirklichkeit ein Concil für Geistes-Abtödtung geworden ist.

Es wär’ wirklich fast schade, wenn die Umsturz-Vorlage nicht durchginge. Das sagt Ihnen hier Einer, der seit 25 Jahren in der socialdemokratischen Entwicklung mitwirkt und der ganz fest überzeugt ist, daß die Umsturz-Vorlage als gegen die Social-Demokratie gerichtet (nicht, wie man vorgibt, gegen den Anarchismus!) Niemanden mehr nützen wird, als eben dieser gefürchteten Socialdemokratie selbst. Das kennen wir nun reichlich aus Erfahrung! Hat uns seinerzeit unter dem großen eisernen Kanzler das Socialisten-Gesetz die besten Dienste geleistet: fürwahr so wird das „Umsturzgesetz“ als „verbesserte“ Auflage || jenes Socialisten-Gesetzes noch unendlich mehr nützen – trotz der großen Opfer, welche da neuerdings von unserer Partei werden genommen werden. Es muß und wird dahin kommen, daß die Wissenschaft und ihre Schulen gar keine andere bürgerliche Partei mehr als Protectorin haben wird, als die verachtete, gemaßregelte, ausgepreßte, gequetschte, die heute noch fast rechtlose Arbeiter-Partei.

Alle bürgerlichen Parteien – außerhalb oder über der zielbewußten Arbeiter-Partei – sind vom brutalsten Egoismus u. von Gesinnungslosigkeit und Heuchelei so zerfressen, wie es vor der französischen Revolution Adel und Geistlichkeit kaum gewesen sind. Da kann Jeder, der etwas Sinn und Verständniß von Entwicklungsgeschichte besitzt, an den Fingern abzählen, wer über dem Chaos des derzeitigen faktischen Anarchismus in Gesellschaft und Parlamenten, über dem Chaos in Kirche, Schule & Verwaltung den schließlichen Sieg davon tragen wird. Was schert den Philister die Wissenschaft und der Fortschritt, wenn es ihm – dem egoistischen Philister nicht gleich an den Kragen geht? Der deutsche Michel muß erst Prügel und Knute sausen hören, ehe er an die Freiheit denkt, unter deren Schatten jeder Bürger seines Daseins fröhlich sein könnte. Das Proletariat hat Nichts zu verlieren, sondern es kann nur gewinnen: darin liegt die dämonische Kraft dieser riesenhaften, zielbewußten Bewegung, welche eine ethische im höchsten Grade ist. Zu spät werden die Philister einsehen, daß der manchesterliche Standpunkt des „laisser aller laisser faire“ zu ihrem eigentlichsten Verhängniß geworden ist. Und sind nicht fast alle Monarchien Europas mit ähnlicher Blindheit geschlagen? ||

Dem Herrn Landrichter (vulgo: „schwäbischen Bischof“) im Berliner Concil haben Sie tapfer heimgeleuchtet. Der Hinweis auf Helmholtz (†) ist köstlich: Die gesinnungslosen Macher handeln allerwärts gleichartig blödsinnig. Ich bin fest überzeugt, daß die heutige Gesellschaft, d.i. die Regierungen aller Staaten, die Parlamente, die Consistorien, die Höfe Europa’s, die ganze lutherische Clerisei und der ganze Adel, daß alle bürgerlichen Parteien & ihre Wortführer tutti quanti dieselbe Comödie aufführen würden, wenn Sie, der verketzerte Jenenser Darwin, der ganzen Bande die Gefälligkeit erweisen würden, in den Schooß Abrahams zu verschwinden, wovor uns der Gott aller braven Monisten bewahren möge!

„Der neue Curs“ ist eigentlich doch immer wieder der alte Curs. Wir, hier außerhalb des deutschen Reiches, sehen da nicht viel Neues entstehen: Steigende Militärbudgets nach wie vor, daß nur so die Rippen krachen; viel „Religion“ alleweil wie unterm frommen WilhelmI; verhungernde Volksschullehrer in Menge, ganz wie früher; Abnahme des allgemeinen Rechtsgefühles wie früher; allmächtige Finanzwirthschaft wie früher, nur mit wechselnden Namen; Soldatenschinderei wie früher; nun auch noch ein Umsturzgesetz als wiedererwecktes Socialistengesetz! – Mein Liebchen was willst Du noch mehr?

Oben ein Laviren!

Unten wachsende Unzufriedenheit, Hass, Spott & Hohn!

Der Bürgerstand ist zur Rolle des Zuschauers verdammt. Vor dem rothen Tuch gibt er Pech oder wird er – zwar immer weniger häufig – wüthend. Er hat kein Verständniß mehr für die Zeichen der Zeit. Das orthodoxe Luthertum hat ihn versimpeln lassen. Die Jesuiten werden schon wieder etwas mehr Leben & Verständniß bringen. ||

Da habe ich nun ganz ohne Rückhalt meiner socialistischen Ueberzeugung Ausdruck gegeben einem Nicht-Socialisten gegenüber. Unsere Partei hat keinen Dogmenzwang; sie ist eine Partei, die des Entwicklungsprincipes besser bewußt ist, als irgend eine andere Gesellschaftsklasse. Die Utopien sind längst schon über Bord geworfen und keinem der lebenden Führer wird einfallen, ein Zukunftsbild vom socialistischen Zukunftsstaat zu entwerfen, welcher Anspruch auf Glaubenszwang erheben könnte. Darüber sind wir denn glücklicherweise hinaus [und der selige Fortschrittsführer Eugen hat auf seinem Freiergang zur Spar-Agnes ganz gewiß mit einer Windmühle gefochten in quixotlicher Narrheit, bis er mit Kopfbeulen und argem Zahnreißen am Boden lag.]. Also Utopien existiren für uns nicht mehr, und ein „großes Zuchthaus“ wird der Zukunftsstaat auch nicht werden, dafür werden die Denker und die Wissenden sorgen, die sich mehr und mehr unseren erreichbaren Idealen zuwenden. (Vergleiche Prof. Enrico Ferri, Socialismus und moderne Wissenschafta (Darwin – Spencer – Marx) Leipzig. Wigand’s Verlag)

Neulich habe ich die Redaction zur 5. deutschen Aufl. (15. bis 20. Tausend) von „Moses oder Darwin?“ besorgt. Nach ein paar Wochen werde ich Ihnen das „vermehrte“ Büchlein übermachen können, von dem ich annehme, es werde in einigen Partien Ihnen Vergnügen machen. Unsere Sache marschirt doch prächtig vorwärts, wie sehr sie anscheinend durch große Reaction bedroht ist. Dem evangelisch-muckerischen Dr. Eberhard Dennert, der mir die große Ehre erweisen wollte, mich neben Sie als Zielscheibe seiner Narreteien zu setzen, habe ich so deutsch geantwortet (in einer kleinen Fußnote), daß er wohl Bauchweh kriegen mag. Der Kerl ist geradezu auf dem Weg zum Tollhaus. Selbstverständlich stellt er sich selbst an die Seite des verblichenen Hamann. Im Uebrigen mache ich meist die Erfahrung, daß die größten Reactionäre und die zahlreichsten Rückwärtser sich aus dem orthodoxen Lutherthum rekrutiren. Die katholische Klerisei ist nicht so vernagelt bornirt, wie die lutherische es faktisch ist. Davon weiß ich manche Belege beizubringen. –

Mit allen guten Wünschen für Ihr ferneres Wohlergehen & Ihr tapferes Wirken:

Ihr herzlich ergebener

A.Dodel.

a korr. aus: Wissenschaften

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.02.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Jena
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 3250
ID
3250