Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Alexander Braun, Villafranca bei Nizza, 10. April 1864

Herrn Professor | Alexander Braun.

Villafranca bei Nizza | 10. April 1864.

Mein lieber hochverehrter Freund!

Von dem ersten unmittelbaren Schlage, den die schmerzliche Catastrophe des 16. Februar mir gebracht und von den schweren darauf folgenden Kämpfen, die mir die seitdem verflossene Zeit zur bittersten und schwersten meines ganzen Lebens gemacht haben, fühle ich mich jetzt wenigstens soweit wieder hergestellt, daß ich den Versuch machen kann, an Sie zu schreiben. Ich fühle mich erst seit wenigen Tagen wieder fähig, überhaupt einen geordneten Gedankengang zu verfolgen; ich lag bisher wie begraben unter den Trümmern des herrlichen Lebensglückes, das so jäh und plötzlich über mir zusammengestürzt ist. Nun soll es mein Erstes sein, Ihnen für den sehr lieben, freundschaftlichen Brief zu danken, durch den Sie meinem geschlagenen und vereinsamten Gemüthe mehr wahren Trost und Erquickung gebracht haben, als Sie selbst wohl beim Schreiben desselben gedacht haben. Wenn ich nicht schon früher so oft Gelegenheit gehabt hätte, die vielfache und wesentliche Übereinstimmung unserer Naturen zu ahnen, durch die ich mich von jeher so lebhaft zu Ihnen hingezogen fühlte, so würde jetzt dieser Ihr sehr lieber und werther Brief mir das Verständniß dafür geöffnet haben. Unter den liebevollen Briefen, welche mir zugleich Freunde von nah und fern zugesandt haben, um mich in meinem schweren || Elende zu trösten, ist keiner, der mich so tief bewegt und ergriffen, aber auch keiner, der mich so wirklich getröstet und aufgerichtet hat, als der Ihrige. Ja, lieber Freund, ich fühle es aus jeder Ihrer Zeilen heraus, daß Sie den vollen und ganzen Scherz meines schweren Leides theilen und begreifen, wie sie früher die ganze herrliche Blüthe meines hohen unvergeßlichen Glückes erkannt und begriffen haben. Und aus der Gleichartigkeit unserer Naturen, wie aus der Tatsache, daß auch Sie dasselbe schwere Schicksal, wie ich, erlitten und überstanden haben, schöpfe ich den Trost und die Hoffnung, daß es auch mir schließlich gelingen werde, diese schwerste Prüfung meines Lebens zu überwinden. Sie prophezeien mir Genesung und ein neues, wenn auch schwereres, doch nicht fruchtloses Lebens als das Endresultat dieses gewaltigen Ringens zwischen der Unlust zum a Weiterleben und der Pflicht weiter zu arbeiten; und ich will um so lieber an Ihre Prophezeiung glauben, als die Seelenzustände, die Gedanken-Wandelungen, die Sie so wahr schildern, wirklich zum Theil schon bei mir eingetreten sind. Ja gewiß, es gilt ein ganz neues und schweres Leben anzufangen, ein Leben voller Arbeit und voller Entsagung, in welchem mir nicht mehr die hohe Freude des liebereichen Zusammenlebens mit einer mir ganz || angehörigen Seele die Mühe und Anstrengung versüßen und als holden Lohn der Arbeit zu immer erneutem Streben anspornen. Freudlos und öde, nüchtern und kahl liegt dies neue bittere Leben vor mir, vergleichbar den nackten todten Wüsten der Seealpen, in denen ich hier umhergewandert bin, und im schroffen Gegensatz abgetrennt von der blühenden reizenden Vergangenheit, die hinter mir liegt, einem blüthenreichen Märchen-Garten, vergleichbar den duftenden Orangen- und Myrthen-Heinen des Mittelmeergestades, die sich eben so schroff von jener nächstangrenzenden wilden Gebirgswelt absetzen. Aber auch die weitere Entwicklung meines Schmerzenslebens, wie Sie sie mir voraussagen beginnt schon einzutreten. Ich kehre zurück, wie Sie sich ausdrücken, „aus der Verzweiflung zu dem Berufe des Lebens, an welcher in aller Weise b theilzunehmen die Freunde und das Streben der Entschlafenen war, und in welchem Berufe fortzuwirken die schönste und wirksamste Bewehrung und Bemühung Ihres Andenkens ist.“ Ja, lieber Freund, mit diesen Worten haben Sie die Wendung zur Besserung und den Beginn der Genesung aufs Treffendste bezeichnet, der seit etwa 14 Tagen in meiner traurigen Lage eingetreten ist, und ich hoffe, daß die Genesung und Wiederbelebung meines abgestorbenen Gemüthes in diesem Sinne von nun an immer weiter fortschreiten wird. || Freilich hat es die schwersten und gewaltigsten Kämpfe gekostet, ehe ich mich bis zu diesem Entschlusse, bis zu dem Wahrspruch meines Lebens: „Arbeit und Entsagung“ – hinausgearbeitet habe. Besonders war es hier die erste Woche, die ich ganz allein in meiner kleinen Einsiedelei in Villafranca verlebte, wo ich fast die Hoffnung einer Genesungs-Möglichkeit aufgab und zwischen Sein und Nichtsein halb verzweifelt hin und her schwankte. Diese Osterwoche, vom Palmsonntag, wo ich hier einzog, bis zum Ostersonntag, wo die Krisis des höchsten Schmerzes eintrat, war die schwerste meines ganzen Lebens, eine wahre Kharwoche. In der Gemüthsabspannung, die diesem aufregenden Kampfe folgte, wurde ich aber zum ersten Male wieder fähig, an das Arbeiten zu denken und den Versuch zur Arbeit zu machen und seitdem haben die reichen Schätze der hiesigen herrlichen pelagischen Fauna, besonders die Medusen, mit denen ich mich vorzugsweise beschäftige, mich von Tag zu Tag mehr angezogen und mich vonc der Möglichkeit überzeugt, wirklich noch d arbeiten zu können, mich den Objekten mit dem Interesse und der Objectivität gegenüber stellen zu können, die den Naturforscher unentbehrlich sind. Hoffentlich ist dies der Rettungsanker, an dem ich mich aus meinem tiefen Elend wieder emporarbeiten kann. ||

II

Ihre Abhandlung über Isoëtes, die gleichzeitig mit Ihrem lieben Briefe eintraf, habe ich, besonders mit Bezug auf die Speciesfrage, mit großem Interesse gelesen; doch habe ich kaum mehr Hoffnung, auch hier Isoëtes aufzufinden. Localitäten, wie Sie sie als Standorte beschreiben und die Gesellschaft, in der die Isoëten wachsen, scheinen hier wenig oder gar nicht vorzukommen; wenigstens habe ich auf den wenigen Excursionen, die ich bisher gemacht, dergleichen nicht bemerkt. Der Abfall des Gebirgs in das Meer ist sehr steil, trocken und fast ganz wasserlos. Blätterbüschel, die ich an mehreren verdächtigen Stellen, in der Hoffnung, e Isoëtes-Knollen daran zu finden, ausstach, erwiesen sich immer als Gräser. Auch versicherte mir der Nizzaer Botaniker, Abbé Montolino, der bei Cannes und Antibes Isoëtes Hystrix und I. Duriaei selbst gefunden hat, daß er in der Umgebung von Nizza & Villafranca schon seit mehreren Sommern vergeblich danach suche. Dagegen habe ich in einem Tümpel auf einem 3600' hohen Joche der Seealpen eine Chara für Sie gesammelt. Herrn Thoret, den Algologen von Antibes, werde ich vielleicht später dort besuchen. Er liegt jetzt in Nizza so krank, daß er keine Besuche annehmen kann. Zu Excursionen in der schönen Frühlingsnatur, wenigstens weiter als 1 Stunde von Villafranca, komme ich nur sehr wenig. || Der Genuß der schönen Mittelmeerküste in landschaftlicher und botanischer Beziehung übt auf mich nicht mehr den mächtigen Reiz, wie früher. Das vorherrschende Gefühl der völligen Vereinsamung, der Unmöglichkeit, den Genuß mit der Geliebten zu theilen und dadurch erste wahrhaft zu genießen, befällt mich grade dann mit doppelter Stärke und mischt die Naturfreude mit soviel Schmerz der Entbehrung, daß ich lieber darauf verzichte. Anders ist es mit der zoologischen Arbeit, die mich in meinem stillen Gartenstübchen dauernder zu fesseln und zu concentriren vermag, namentlich die Untersuchung der zierlichen und formenreichen Medusen. Seit 14 Tagen habe ich mich mit diesen fast ununterbrochen beschäftigt. Dabei verstreicht mir ein Tag so ruhig und gleichmäßig, wie der andere, und die völlige Einsamkeit, in der ich hier ganz abgeschlossen lebe und die mir anfangs sehr schwer wurde, ist mir jetzt sehr lieb geworden. Ich spreche hier keinen Menschen, ausgenommen 3 französische Architecten, ganz nette einfache Leute aus der Provence, die hier beim Eisenbahn-Bau beschäftigt sind, und mit denen zusammen ich in der einzigen hier existirenden Restauration mein ziemlich dürftiges Mittagsmahl einnehme. || Jeden Morgen von 7–8 fische ich eine Stunde im Hafen mit dem feinen Netze. Meistens bekomme ich dabei so viel Material, daß ich den ganzen Tag vollauf zu mikroskopiren und zu zeichnen habe; die Notizen werden dann am Abend ergänzt. Eine Abwechslung in diese Thätigkeit bringt bringt höchstens das Schreiben oder das Empfangen eines Briefes. Grade das Exclusive dieser Thätigkeit, die mich zum ersten Male wieder auf ein Object zu concentriren vermocht hat, ist mir sehr wohlthuend und in dieser Beziehung konnte ich keinen bessern Zufluchtsort finden, als diese kleine stille Hafenstadt, die Nichts von dem Lärm, Glanz und Getümmel von Nizza hat, und wo ich in einem kleinen Gartenstübchen völlig verbergen lebef. Ich denke auf 4–6 Wochen hier zu bleiben, um die angefangenen Medusen-Untersuchungen, die mir ziemlich viel Neues liefern, wenigsten zu einigem Abschluß zu bringen. Ich werde also wohl in der Pfingstwoche nach Jena zurückkehren und meine Vorlesungen erst am 23. Mai beginnen. Vor Jena fürchte ich mich sehr und möchte am liebsten gar nicht wieder dahin zurückkehren. Wenn sich eine passende Gelegenheit findet, eine größere Reise zu machen, so bin ich auch entschlossen, meine dortige Stellung aufzugeben. Alles was sie für mich Reizendes hatte, ist mit meiner Anna begraben. || Mein Hauptwunsch wäre jetzt, längere Zeit, wenigstens 1–1½ Jahre, Untersuchungen über die pelagische Thierwelt an einer südlichen Seeküste, im tropischen Afrika oder Asien, anstellen zu können. Doch bin ich eventuell auch sehr geneigt, an einer anderen wissenschaftlichen größeren Expedition Theil zu nehmen. Wenn Sie von einer solchen Gelegenheit hören, so denken Sie an mich. Bitte, theilen Sie auch gelegentlich Dr. Barth diese meine Absicht mit. Vielleicht hört er davon. Ich glaube allerdings jetzt mehr als je mich für ein solches Unternehmen zu eignen, g zumal ich der Genüsse und Bequemlichkeiten des Lebens jetzt weniger als je bedarf, und alle Gefahren völlig verachte. Die pelagische Thierwelt ist in den Fragen noch so sehr wenig bekannt und wird sicher überraschend reiche Ernte liefern, und da sie doch einmal mein Steckenpferd ist, so möchte ich je eher je lieber ihr meine nächste Lebenszeit widmen. Meine Neigung für allgemeine Arbeiten, die mich h in dem letzten Jahre vorwiegend beschäftigte, ist durch die Wandlung meines Schicksals ganz zurückgedrängt. Zunächst bedarf es wieder der Detail-Anschauungen, um mich zu fesseln. –

– Bitte, grüßen Sie Ihre liebe Frau und Kinder herzlich und bewahren Sie Ihre liebevolle Freundschaft Ihrem armen vereinsamten Haeckel

a gestr.: P; b gestr.: zu; c eingef.: von; d gestr.: zu; e gestr.: ihre; f korr. aus: lehe; g gestr.: da; h gestr.: b

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.04.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Staatsbibliothek Berlin PK
Signatur
Slg. Darmstaedter, Lc 1875: Haeckel, Ernst
ID
32384