Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Hermann Allmers, Berlin, 14. Mai 1860

Berlin 14.5.60.

Mein lieber, treuer Zeltgenosse!

Willkommen, Wilkommen in unserer lieben, trauten Vaterlanda, auf dem ehrlichen, deutschen Boden, in unserer gemeinsamen norddeutschen Heimath, von deren Mutterbrust wir Beide in gleicher Weise Freiheitssinn und Lebenslust, innige Freude an Kunst und Natur, lebendiges Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen eingesogen haben, und jetzt, nach der Rückkehr aus den seligen hesperischen Gefilden, mit erneuter Kraft und Tiefe einsaugen. Es sind das die ersten Zeilen, mein bester Allmanno, die mir wieder aus der Feder fließen und Du wirst es der schiefen, hinkenden Schrift und den lahmen, jedenfalls hinter dem wahren Gefühl weit zurückbleibenden Ausdrucksweise leicht ansehen, wie sehr ich in Betreff des Schreibens aus der Übung gekommen bin. Ich habe aber auch in den letzten 6 Wochen kaum eine Feder mehr angerührt, und ins besondere die letzten beiden Wochen (die ersten wieder in der Heimath) waren durch „mündliche“ Mittheilungen, Umhalsungen, Umarmungen etc derart in Anspruch genommen, daß ich keinen ruhigen Augenblick zum Schreiben gewann. Zwar kann ich mir das ehrliche Zeugniß geben, daß ich bereits Anfang voriger Woche einmal den Versuch machte, den ersten Willkommsgruß an Dich abzuschicken. Allein schon nach der ersten halben Seite erschien die kleine holde Frühlingsgöttin, die jetzt natürlich mein Herz mit verdoppelter Gewalt ablenkt – und die Freundschaft mußte der Liebe weichen. Indeß darfst Du darum nicht denken, daß ich Dich auch nur einen Tag vergessen hätte! Im Gegentheil! Grade jetzt hier, wo ich meinen Liebsten, Nächsten, meiner Braut, Bruder, Eltern täglich von Dir bestem, edelstem Freunde, meinen ersten und besten Reisefreunde, erzählen muß, wird die herzliche Freundschaft und innige Zuneigung zu Deiner verwandten Seele immer lebendiger und tiefer, so daß ich mit wahrer Sehnsucht dem Zeitpunkt entgegen hoffe, || wo ich Dich einmal hier haben werde, und in natura in den lieben, trauten, deutschen Familienkreis einführen darf, zu dem Du schon jetzt in der Ferne, persönlich noch unbekannt, ganz gehörst. – Heut Morgen nun, als mir bei der lachendsten Frühlingssonne, die durch alle frischgrünen Blättchen der Bäume zitterte, die Lerchen und Finken im Garten aus vollen Kehlen ihren Morgengruß zujubelten, da war mein erster Gedanke: Nein, heut, heut Morgen mußt du nun aber wirklich endlich schreiben – und siehe da, während ich die verrostete Feder vorsuche und die eingetrocknete Tinte aufweiche, bringt mir mein Vater Deinen letzten, an ihn gerichteten Brief, in dem Du Dich so sorglich um mich erkundigst und ihn um baldige Nachschrift bittest. Hab tausend Dank, Du liebes, gutes Herz, für Deine zärtlich besorgte Freundschaft; Du schenkst sie keinem undankbaren und unwürdigen Gemüthe. Mein erstes ist aber nun, Dir auf der Stelle zu antworten und meine Erlebnisse aus der jüngstvergangenen Zeit mitzutheilen. Doch da fällt mir ein, daß ich bald wieder das Nothwendigste und Nächste vergessen hätte, nämlich den Dank für den überaus lieben und herzigen Brief, durch den Du mich kurz vor der Abreise von Messina erfreutest. Niemals in Italien habe ich so herzlich gelacht, wie über Deine meisterhafte Composition meines radiolarienstolzen Triumpheinzuges in Berlin, die auch hier beim Mittheilen an die Freunde und Verwandten lauter Jubel erregte. Da hat Deine Mährchen-Phantasie wirklich selbst einen Triumphzug gefeiert! Der Brief war so lieb und herzig, daß ich die größte Lust hatte, ihn gleich zu beantworten. Doch verschob ichs nachher lieber bis zur Heimkehr, zumal du mir selbst schriebst, daß Du vor der Rückkehr keinen Brief mehr aus Messina erwartetest. Nimm darum den Dank für diese besondere Brieffreude aus nicht minder lebendigem Munde. ||

Mein Aufenthalt in Sicilien und die Rückkehr nach Deutschland haben sich bedeutend mehr ausgedehnt, als ich anfangs beabsichtigte, so daß ich erst gestern vor 14 Tagen, am 29st. April, hier wieder eintraf. Dein lieber Brief traf mich beim Einpacken meiner letzten Habseligkeiten, Mitte März. Der größte Theil derselben war, mit Deinen Sachen, schon kurz zuvor abgeschickt; diese, vermittelst eines kleinen, wackren, Schleswig-Holsteiner Schooners, des „Rickleff“ Mitte März nach Hamburg abgegangene Expedition umfaßte nicht weniger als 12 Kisten, nämlich 5 für mich (größtentheils gesammelte Seethiere), 3 für Dich und 4 für die zoologischen Museen von Bonn, Jena u. Berlin. Fast bin ich jetzt um diese große wichtige Sendung, die mir sehr am Herzen liegt, da sie d. Früchte eines großen, wichtigen Arbeitsjahres enthält, etwas in Sorgen, da ich noch gar nichts wieder von dem Schiffe gehört habe. Anfangs Mai sollte es in Hamburg ankommen; doch ist es leicht möglich, daß ungünstige Winde die Fahrt verzögert haben. Hoffentlich sind uns die günstigen wohlwollenden Nereiden auch in diesem Punkte treu und führen uns unsere Schätze wohlbehalten zu. Jedenfalls würde ich Dir rathen, Deinen Spediteur, Hrn. W. Krebs in Bremen, an den ich Deine 3 Kisten direct adressirt habe, baldigst zu melden, daß er dieselben durch Hrn. Herrmann Piper (Agenten von Hrn. b H. Peters in Messina) per Schooner Rickleff zu erwarten habe. Die eine Kiste enthält Deine Neapolitanischen Terracotten und Vasen, die zweite ein halb Dutzend Flaschen Wein. Der gewünschte Syracuser war leider auf keine Weise zu beschaffen. Ächter Syracuser existirt nämlich bereits seit 6 oder 7 Jahren nicht mehr im Handel, in Folge der Alles vernichtenden Traubenkrankheit. Dafür habe ich mir den edelsten Etna Wein aus dem Benedictinerstift in Catania || (die frati haben bekanntlich die feinste Weinzunge!) verschafft, welcher hoffentlich Deinen vollen Beifall haben wird. c Dein antikes convivium wird sich dieser Zugabe nicht zu schämen haben. Nur jammerschade, daß ich nicht dabei sein kann! Die dritte, größte Kiste enthält die gesammelten Naturalien, die Karte von Neapel, das Museo Borbonico, 2 Amphoren etc. Deine Syrierwünsche habe ich leider nicht mehr erfüllen können es war zu spät. Auch von unserem kleinen lustgen Stromboli u. den andern liparischen Iinseln konnte ich nichts mitsenden, da diese Expedition, wie so viele andere schöne Pläne, zu Wasser geworden ist. Nicht einmal die Umgebungen Messinas habe ich mehr durchstreifen können; die Zeit drängte in letzter Zeit so, daß alle andere Rücksicht hinter dem riesenhaft angewachsenen Zoologischen Arbeitsmaterial zurückstehen mußten. Zwar weiß ich, mit welcher Gleichgültigkeit (?) resp. sgar Verachtung (??) Dein poetischer Künstlersinn auf diese realistischen Bestrebungen herab schaut, doch mußt Du mir schon ausnahmsweise etwas mehr Theilnahme gönnen und voll Theilnahme Dich mit mir darüber freuen, daß meine kühnsten Wünsche in dieser Beziehung (und es war ja doch ein Hauptzweck der Reise!) nicht nur erreicht, sondern bei weitem übertroffen worden sind. Aus den 50 Radiolarien, von denen ich Dir in meinem ersten Messina Briefe schrieb, sind 101 geworden und zwar immer zierlichere reizendere mährchenhaftere Formen, reizendmannichfaltige und künstliche Kieselgitter in Gestalt von Laternen, Blumenkörbchen, Vogelbauern, Helmen, Lanzen, Schildern, Sternen etc. Ich wünschte nichts sehnlicher, als Dir diese wunderbaren Naturspiele einmal unter dem Mikroscop zeigen zu können, um Deinem heidnischen Künstlerstolz in fromme kindliche Bewunderung auch dieser Wunder der Natur zu bekehren. ||

Du siehst, Dein Festprogramm für meinen Triumpheinzug nach Berlin müßte wesentlich verbessert, die Zahl der Radiolarienknaben mindestens verdoppelt werden! Vorläufig wird nun die Ausarbeitung und Veröffentlichung dieser herrlichen Schätze meine Hauptarbeit sein! Wenn ich nur einen Verleger finde, der mir die 20 dazugehörigen Kupfertafeln recht brav ausstattet. Der Sommer und ein Theil des Winters wird wenigstens nöthig sein, um die Naturgeschichte der Radiolarien fertig zur Publikation zu machen; dann, hoffe ich aber auch, sollst Du noch recht freudig stolz auf Deinen treuen Zögling werden! Die zierlichsten und schönsten Sachen, die mir die reinste Freude machten, fand ich alle noch in den letzten Wochen und diese sind auch Schuld daran, daß mein schöner Plan, den letzten Monat auf Sicilien lediglich zu sicilischen Frühlings-Natur-Studien und Genüssen zu verwenden, und mit dem unvermeidlichen Aquarellirapparat und der Pflanzenpresse nochmals nach Palermo, Catania und Nicolosi zu wandern, leider völlig zu Wasser wurde. Nicht einmal nach Taormina bin ich wieder gekommen. – Barbar!! wirst Du sagen und mit einem tiefen Seufzer den Verlust eines Theils Deiner schönen Erziehungsfrüchte beklagen. Indeß der Anblick der sauber in Kupfer gestochenen Radiolarien wird Dich wenigstens theilweis versöhnen zumal Du diese reizenden Formen möglicherweise bei der architektonischen Ausschmückung Deines Ateliers verwenden und vielleicht sogar einen neuen „Styl“!! daraus erfinden kannst, der die gesammte Architectonische Welt in Schrecken und Bewunderung jagen und Dir den unsterblichen Ruhm des Gründers einer neuen Epoche in der bildenden Kunstgeschichte sichern wird! Höherer Radiolarienstyl! Ich glaube, selbst die beste Gothik, geschweige denn der rundbogige Byzantinismus wird sich hinter diesem neuen Styl verkriechen müssen! – ||

Nur die letzte Woche in Sicilien (die letzte Märzwoche) konnte ich es denn doch nicht übers Herz bringen, ganz ohne Herzensgenuß von der herrlichen Natur zu scheiden und habe mir noch ein paar Andenken mitgenommen. Einen Tag bin ich nach Herzenslust in den wilden Thälern herumgestiegen, die die Bergkette rings um die Stadt einschließt. Einen andern herrlichen Tag aquarellirte ich die Eremitage von Trepani (wo wir schon damals mit Klostermann waren) und einen dritten die wundervolle alte normannisch-maurische Kirchenruine l’Abbadiazza (nach Signor Faerze „Maria della valle“), bei der ich nichts mehr bedauerte als Dich nicht bei mir zu haben. Das wäre so recht was für Dich gewesen, eine Verbindung von malerischem, naturhistorischem, geschichtlichem und ethnographischem Interesse, wie sie nur Dich recht entzücken kann. Die Frühlingsgewässer, die mit wilder Gewalt durch das enge tiefe Flußbett, (die Fiumara, in der die Kirche tief hinten im einsamen öden Thalgrund steht) hinabrauschen, haben nach und nach solche Geröll- und Kiesmassen herab geführt, daß diese jetzt das Innere der Kirche zur Hälfte (d am Chor fast bis zu den Säulenknäufen hinauf) erfüllt und versandet haben. Die characteristsche maurisch-normannische Architectur ist prächtig erhalten, und durch die offenen Fensterbogen und Deckenlöcher ist ein so üppiger Epheukranz, eine so reiche Fülle südlicher langrankiger Schlingpflanzen hineingewuchert, daß mir immer die schöne spanische, von Loewe (?) componirte e Ballade in den Sinn kam, deren reizende Melodie Du mir so oft vorsangest: „Die wilden Trauben sind dort eingezogen etc.“ – Dazu nun eine entzückend-magische Beleuchtung im Innern, einige Ziegen zwischen den zerfallenen Altartrümmern herum springend, ringsum tiefe Stille, ernstes Schweigen einer großartigen, ernsten Gebirgsnatur, ununterbrochen von dem Rauschen des eisig kühlen Bergbachs, gegenüber aber, jenseits der tiefblauen Meeresenge || im lachendster Sonnenglanze die herrliche farbenprangende langgestreckte calabrische Küste mit ihren schneebedeckten Gipfeln – es war in der That entzückend, eine wahre, f wollustreiche Farben- und Licht-Schwelgerei; – kaum habe ich je Dich so entbehrt, wie an diesem Tage und immer hörte ich hinter mir die Worte: Heiliges Kreuzdonnerwetter, alter Junge! famos!! famos!!! Das hat der Alte mal wieder gut gemacht! fabelhaft!!“ Ich sah mich oft um, in der Erwartung, einen Theil der colossalen Beduinen-Nase irgendwo hinter einem Felsvorsprung vorlugen zu sehen. Allein vergebens; weder sie, noch die lieben, treuen deutschen, blauen Augen wollten erscheinen und ich mußte mich mit dem Gedanken begnügen, welche Freude Dir einmal eine Copie des ziemlich gelungenen Aquarells verursachen würde. – Am letzten Tage vor der Abreise endlich erfüllte ich auch den längstgehegten Plan, das Nächstliegende zu ergreifen und machte machte mir aus vier langen Blättern ein Panorama des wundervollen Messinahafens und der langen, langen prachtvollen calabrischen Küste, von Scilla bis Cap Spartivento, ein reizender Erdenwinkel, der mir so sehr, sehr lieb geworden und den ich schon jetzt schmerzlich, wenn ich aus dem Fenster blicke, vermisse. – Endlich, endlich am 1 April (Palmsonntag) war der Tag der Abreise da und mit wunderbar gemischten Gefühlen verließ ich das wundervolle Eiland der Trinacria mit seinem zauberischen Meer, die Mährchen-Insel, die mit ihren reichen Naturgeschenken alle meine kühnsten Erwartungen übertroffen, alle sehnlichsten Wünsche erfüllt und mir Stoff für mein ganzes reiches folgendes Leben, vielleicht maßgebende Richtung und bestimmte Gesetze für dessen ganze Dauer geschenkt hatte. Daß ich dabei Deiner, bester Freund, nicht vergaß, kannst Du denken. In Deiner treuen Gesellschaft hatte ich ja die Insel zuerst beteten und ihr Inneres in Deiner reich anregenden Gemeinschaft durchwandert. || Wie beim Scheiden von Ischia, von Capri, von Neapels reichen herrlichen Umgegenden, die wir alle in gemeinsamer genußreicher köstlicher Wanderzeit reich ausgebeutet, der eine Gedanke mir alle Erinnerungen doppelt angenehm machte: „Und ohne den A. wäre das Alles doch nur halb so schön und herrlich gewesen; er hat dir doch Alles erst erschlossen und zugänglich gemacht; durch ihn erhielt Natur und Kunst erst die rechte Weihe!“ – so bewegte mich auch beim Scheiden von Sicilien, beim Abschluß dieser großen wichtigen Lebensepoche, jener A. Gedanke doppelt lebhaft. Ja, habe nochmals Dank, innigsten Dank, Du liebster, bester Freund, für Deine herrliche Freundschaft, für die prächtige, ideale Seele, von der ich nun auch ein so schönes Theil besitze – und bewahre sie nur auch fernerhin; kann ich Dir auch kein so reiches poetisches Gemüth, kein so lebendig volles künstlerisch ideales Dichterleben dafür wieder geben, so sollst Du doch stets in meinem einfachen, schmucklosen aber treuen und tiefen deutschen Herzen einen Anhalt und festen Besitz haben, der Dir vielleicht dereinst noch manches schaffen kann. Vielleicht erfreut es Dich schon jetzt, zu hören, wie die von Dir gepflanzten Keime emporgesproßt und gewuchert sind; die köstliche Freude am Schönen und Großen in Natur und Kunst, die begeisterte Freiheits- und Vaterlandsliebe, der muthvolle männliche Sinn, die furchtlose Offenheit und freimüthige Selbständigkeit – kurz das frische, freie, frohe Leben in das ich jetzt voll Muth und Hoffnung neu hineintrete. – Du hast nicht minder, als Italien selbst, daran Antheil und je mehr diese Blüthen Früchte tragen, desto mehr werde ich dabei stets Deiner mit dankbar treuem Sinn gedenken. Vielleicht amüsirt Dich auch, zu hören, daß selbst Deine poetischen Anregungen nicht ohne directe Anregung g geblieben sind u. daß ich im Laue des Winters ein paar Gedichte geträumt habe, deren eins ich Dir vielleicht einmal spaßes halber zum Durchlesen mitschicken werde. ||

Da ich nun im Verlauf meiner Schreibselei einmal auf das unerschöpfliche Thema: Herrmann Allmers! gefallen bin, so will ich gleich noch in Kurzem Dir die Resultate der Verhandlungen über diesen seltsamen Gegenstandh mittheilen, die während der Messina Winters fast täglich (Abends von 5-6 Uhr im Hôtel Victoria, Zimmer Nummer 1, 4 Treppen hoch) von 4 gelehrten deutschen Doctoren der Medicin in hochweiser Berathung gepflogen wurden. Die hier gefaßten Beschlüsse haben in Berlin, sowohl Wilhelmsstr. 73 als Hafenplatz 4, vollen Beifall gefunden und müssen also möglichst bald in Kraft gesetzt werden:

§ 1. Er muß heirathen, und zwar möglichst bald.

§ 2. Er muß Kammermitglied werden, dito.

§ 3. Er muß die Erziehungsinstitutsgrille aufgeben.

Leider reicht heut Zeit und Raum nicht hin, Dir dies Alles genügend zu motiviren, daher ein andermal ausführlicher darüber! §§ 1 und 2 sind natürliche Folgen von § 3, welcher daher vor Allem auszuführen ist. Daß Du als freisinniger, beredter Abgeordneter in der hannöverschen Kammer (namentlich wenn sie sich so schmachvoll benimmt, wie jetzt) i ferner später als Vertreter des Friesenstammes im deutschen Volksparlament, unendlich mehr Gutes stiften und dem Vaterland unendlich viel mehr nützenj kannst, als wenn Du 1 Dutzend friesische Bauernlümmels zu halbwegs modernen verständigen Kunstkritikern erziehst, liegt auf der Hand. Dein Erziehungsinstitutsplan sieht zwar sehr edel aus und ist erschrecklich ideal, aber leider nur viel zu sehr, so daß gewiß in der beabsichtigten Weise nicht durchzuführen ist. (N.B. Denkst Du denn, daß Du von der Regierung die Concession dazu erlangen wirst?) Also frisch auf, kräftig los gezogen und für die Freiheit des deutschen Volks gesprochen und gehandelt! Du hast ganz das Zeug dazu. Du bist so unabhängig und frei, als kein anderer und solltest schon deßhalb allein Dich zum Deputirten wählen lassen. ||

Was § 1 betrifft, so habe ich Dir schon mündlich oft genug die Lichtseiten dieser glücklichsten Seite des menschlichen Lebens aus einandergesetzt und kann Dir jetzt nur aus neu bestätigter Erfahrung hinzufügen, daß doch erst meine süße Braut mir das Leben in seinem vollen Sonnenglanz erscheinen läßt! Alles Schwere wird durch sie doppelt leicht, alles Schöne doppelt herrlich! S’ ist fürwahr eine der größten Himmelsgaben, so ein lieb Ding im Arm zu haben. Wir sind ja nun einmal von der hochweisen Mutter Natur nicht als geschlechtslose Engel geschaffen (was ein schrecklich langweiliger Zustand sein muß) und also ists die nächste Naturnothwendigkeit für einen braven Mann (und also doppelt für Dich als einen bravsten) möglichst bald in einem treuen Weibe sein natürliches Complement zu suchen. Ich versichere Dir, daß dann Dein Dichtersinn erst recht aufleben, erst dann die rechten reichen Blüthen und Früchte tragen wird. – Doch ein andermal mehr davon! Heut noch ein paar Worte von der Rückkehr. – Das liebe schöne Sicilien wollte mich nur ungern fortlassen. Erst um Mittag langte am 1sten April der große Messageriedampfer von Constantinopel an, der mich entführen sollte. Um 5 Uhr nachmittags dampfte der stolze „Euphrat“, das größte und prächtigste Boot des Mittelmeeres aus dem wundervollen Messinahafen heraus, zum letzten mal hört ich die Scilla und Charybdis brausen, sah zum letztenmal den gesegneten prächtigen Siculerstrand mit dem schaumumkränzten Gestade. Wir fuhren dies mal zwischen Lipari und Stromboli, der kein Feuerwerk sehen ließ, hindurch. Den folgenden ganzen Tag nur Himmel und Wasser, oder vielmehr Schaum, denn es war der heftigste und anhaltendste Sturm, so daß unser colossaler Dampf-Delphin in allen Fugen knackte und ich beinah meinen Stolz nie seekrank zu werden, eingebüßt hätte. Dafür war der zweite Tag (3.4.) sehr ruhig, schönster Himmel und die Durchfahr zwischen Sardinien und Corsika (durch die Bonifaciusstraße) prächtig. ||

Nach 60stündiger glücklicher Fahr ankerten wir am 4.4. Morgens 5 Uhr im Hafen von Marseille, wo ich mich einen Tag herumtrieb. Dann direct per Eisenbahn nach Paris. Wie Du weißt, hatte ich früher keine Lust, Paris auf dieser italienischen Reise mitzunehmen. Allein erstens lag jetzt der lange Arbeitswinter hinter mir und zweitens hatte ich nun zu sehr die Aussicht, nicht so bald wieder mobil zu werden. Ich dachte also: „Occasio praeceps“! faßte die Gelegenheit beim Zipfel, und kann nicht froh genug sein, meine herrliche 15monatliche Reise durch diesen prächtigen Schlußstein vervollständigt zu haben. Ich muß Dir über Paris allein einmal einen besondere Brief schreiben. Diesmal nur soviel, daß es alle meine Erwartungen bei weitem übertroffen hat. „Das moderne Rom“! Diese 2 Worte werden grade Dir am besten sagen, wie mich seine außerordentliche Großartigkeit ergriffen hat, der reiche Überfluß an allen köstlichsten Kunstschätzen, Museen und Sammlungen aller Art im größten Maaßstabe, in der glänzendsten und instructivsten Form, ein colossaler und blendender, aber feiner und geschmackvoller Luxus, eine Pracht und mit Glanz alles öffentlichen und privaten Lebens, wovon man bei uns keine Ideen hat; was mich aber vor Allem lebhaft ergriffen und als Deutschen (leider!) wahrhaft beschämt hat, ein höchst großartiges und gewaltiges, einheitliches, selbstbewußtes nationales Leben, eine Centralisation, von der man Respect haben muß. Mag diese auch noch so sehr ihre Schattenseiten haben, namentlich unter den jetzigen (übrigens sehr erträgliche) Militärdespotismus, so sind doch die großen Lichtseiten der Centralisation überwiegend und springen vor allem uns Deutschen leuchtend in die Augen, die noch so sehr unter dem schmählichen Joch kleinlicher Zersplitterung, eines niedrigen Egoismus und kurzsichtigen Particularismus schmachten. Das zweite, nicht minder Großartige, was mir besonders imponirend entgegen trat ist die ungemein zuvorkommende Liberalität, mit der alle öffentliche Bildungsanstalten jedermann zur Disposition stehen. || So z. B. sind alle Vorlesungen an der Universität ganz öffentlich und unentgeldlich und die Collegien sind angefüllt mit dem buntesten Auditorium, Studenten, Soldaten, Blousenmännern, Arbeitern, Damen etc, die alle mit der größten Aufmerksamkeit und Ruhe bis zum Ende der Vorlesung zuhören. Wie müssen wir uns da mit unsern engherzigen Institutionen schämen! Ebenso sind alle Museen, Sammlungen, Bibliotheken, Conservatorien etc jedem ohne Ausnahme unentgeldlich jederzeit zugänglich. Wie weit sind uns in diesen Dingen, in der factisch durchgeführten Égalité (Adel existirt nur noch dem Namen nach!) die glücklicheren Franzosen voraus! Während ich L. Napoleon vorher nur als schlauen Schurken haßte, habe ich ihn in Paris als großen Staatsmann bewundern lernen. Nun hoffentlich liegt auch für uns der Tag nicht mehr fern, wo endlich der sehnsüchtige Wunsch einer starken und liberalen deutschen Centralgewalt gestillt wird. Von Herzen wünsche ich auch den armen Sicilianern ein Glückliches Gelingen dieses neuen Versuchs, das niederträchtige neapolitanische Joch abzuschütteln. Besonders hoffe ich viel von Garibaldi und sehe mit großer Spannung der Nachricht von dessen glücklicher Landung und erfolgreichen Waffenthaten entgegen. Der Geist der Freiheit geleite ihn glücklich! Ich reiste 8 Tage vor dem Ausbruch der (übrigens längst erwarteten) Revolution ab und habe seitdem keine Nachricht, obwohl Freund Bartels mir bestimmt Briefe versprochen hatte. Sobald ich direct etwas Interessantes höre, werde ich es Dir mittheilen. – Deine vermißten Zeichnungen haben sich leider nicht gefunden. Ich hoffe, sie Dir durch Copieen der meinigen ersetzen zu können. Mein erstes Aquarell, sobald ich mal wieder den Pinsel in die Hand nehme, soll eine Copie des Arco naturale sein. den Winter über habe ich gar nichts gemalt, bloß einige 1000 Radiolarien Zeichnungen angefertigt. – Mein Empfang in Berlin entsprach zwar nicht ganz Deinem Festprogramm (namentlich dem Schluß nicht! leider!!), war aber über alle Maaßen herzlich u. glückselig. Alle alten Lieben waren da, um den langersehnten Wanderer in ihren Arm zu schließen, sogar die unnütze Arme, die Sie herzlich grüßen läßt.k

a gestr.: Heimath; eingef.: Vaterland; b gestr.: W.; c gestr: Es; d gestr.: bis; e gestr.: spe; f gestr.: Wo; g gestr.: und; h einge.: über diesen seltsamen Gegenstand; i gestr.: nun; j korr. aus: nützend; k Briefschluss von Anna Sethe: sogar die … grüßen läßt.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.05.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 32228
ID
32228