Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Albert Niess, Jena, 19. Dezember 1875

Jena 19 Dec 75

Mein lieber treuer Freund!

So darf ich Sie wohl nennen nach Ihrem heutigen lieben treuen und wahrhaft freundschaftlichen Briefe, der mir noch mehr Freude gemacht hat, als Ihre früheren. Sie ahnen nicht, wie mir derselbe gerade zu rechter Stunde als wahre Herzstärkung erschien. Ich bin nämlich gerade jetzt heftigeren und zahlreicheren Angriffen ausgesetzt, als je. Sogar viele meiner nächsten Freunde finden, daß ich „zu weit gehe“ und suchen mich zu bestimmen, mit halber Kraft vorwärts zu gehen, was ich doch einmal nicht kann! || Hauptursache dieses neuen Sturmes ist beifolgende Streitschrift, in der ich mehreren meiner heftigsten Gegner allerdings stark zu Leibe gehe. Ich habe mir damit sehr geschadet, wenigstens unter den nächsten Fachgenossen. Wegen eines Widerrufes seien Sie aber unbesorgt. Ich bin viel zu weit gegangen und viel zu sehr engagiert, um noch an Umkehr denken zu können! Ich halte mich eines Widerrufes nicht für fähig, den einzigen Fall ausgenommen, daß ich geistesschwach würde. In diesem Falle bitte ich Sie um den Freundschaftsdienst, im Interesse der Sache, für die wir kämpfen, die Erklärung auf beifolgendem Blatte publiciren zu wollen. || Heute morgen überraschten Sie mich durch Ihre gütige Weihnachtskiste. Ich kann Ihnen dafür eigentlich nicht danken, sondern sollte Ihnen böse sein! Sie sollen meinetwegen sich keine Kosten machen! Ihre financielle Lage scheint mir für solche Excesse nicht geeignet! Ich bin von Ihrer aufrichtigen Freundschaft und Hingabe vollkommen überzeugt, auch ohne daß Sie meine Speisekammer mit vorzüglichen Braunschweiger Pfefferkuchen und Würsten bereichern. Da Sie nun aber einmal so leichtsinnig waren, nehmen Sie von mir und von meiner Frau den herzlichsten und wärmsten Dank dafür an! Lassen Sie diese Sendung aber die letzte sein. Wenn Sie ein reicher Mann wären, würde es Etwas Anderes sein! || Sie werden heute oder morgen (spätestens in einigen Tagen) meine neueste Schrift „Arabische Korallen“ erhalten, welche ich meinen Verleger beauftragt habe, Ihnen direct zu übersenden. Sie sollten schon vor 14 Tagen fertig sein. – Ganz besonderen Dank noch für Ihre neuesten Gedichte „Ständchen“ und „im Trauern“; ebenso für die früher übersandten „Wunsch und Weihnachtslied“. Sie haben mir und meiner Frau große Freude gemacht. Ich freue mich sehr daß Sie in Braunschweig einen competenten Kritiker gefunden haben, der Ihre literarischen Produkte als Fachmann beurtheilen kann und Ihnen bei der Publication mit Rath zur Seite stehen kann. ||

Nun, mein lieber Freund, wünsche ich Ihnen von Herzen ein recht fröhliches Weihnachtsfest, einen befriedigenden Abschluß des ablaufenden, und einen recht glücklichen Anfang und Fortgang des neuen Jahres!

Meine Frau vereinigt ihre Wünsche und ihren Dank mit den meinen, und grüßt Sie und Ihre liebe Frau herzlichst!

Ihr treu ergebener und dankbarer

Ernst Haeckel

verte ||

P.S. Was Sie mir über die „Anthropogenie“ und die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ schreiben, ist ganz meine Überzeugung. Ich sehe damit die Hauptaufgabe meines Lebens als gethan an. Im Princip werde ich nicht darüber hinaus kommen; nur im Einzelnen kann ich noch den Ausbau verbessern. Daß ich jetzt noch sehr isoliert stehe und rings von Feinden bedrängt, bricht meinen Muth nicht! Nur ganze Wahrheit! ||

Ostensible Erklärung.

Da mir in höherem Alter vielleicht das Unglück passiren könnte, nicht mit voller Geisteskraft mehr das ganze Gebiet der Natur-Erscheinungen zu beherrschen, welches ich in der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ und in der „Anthropogenie“ darzustellen und monistisch zu erklären versucht habe; und da ich in diesem traurigen (zwar unwahrscheinlichen, aber nicht unmöglichen) Falle vielleicht mich zu dualistischen Halbheiten und einschränkenden Schwächen verleiten lassen könnte, so erkläre ich hiermit heute, || wo ich mich im Vollbesitze meiner Urtheilskraft und bei klarem nüchternen Verstand befinde, daß ich die in den obigen Schriften dargelegte Naturanschauung für völlig wahr und die darauf gegründete monistische Philosophie mit allen ihren Consequenzen für die einzig richtige halte.

Jena am 19. December 1875

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
19.12.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Stadtarchiv Braunschweig
Signatur
G IX 8: 11
ID
31907