Ernst Haeckel an Wilhelmine Hintze, Jena, 24. Februar 1912
Jena 24.2.1912.
Hochverehrte liebe Freundin!
Die erste Woche meines 79.sten Lebensjahres war dergestalt von Besuchen und Glückwunsch-Schreiben etc in Anspruch genommen, daß ich erst heute dazu komme, Ihnen meinen herzlichen Dank für Ihren Brief abzustatten, und für den herrlichen Baumkuchen, durch dessen Praenumerand-Sendung – als erstes und süßestes Geschenk! – Sie meine Geburtstags-Feier schon vor dem 16.2. eingeleitet haben.
Diese wunderbare dendroide „Natur-Form der Kunst“ ergötzt noch jetzt täglich alle meine Sinne und versetzt mich in die glückliche Jugend-Zeit, wo (– vor 70 Jahren! –) der „Geburtstags-Baumkuchen“ das „Höchste“ war. || Eigentlich sollte ich Sie freilich schelten, daß Sie – allen Grundsätzen eines sparsamen Haushalts zuwider! – sich solche „Luxus-Ausgaben“ gestatten, zumal für einen solchen ungläubigen Monisten und „Muffigen Ketzer“! Indessen einmal will ich es noch ohne Rügen hingehen lassen, zumal dieser Geburtstag wahrscheinlich der vorletzte (oder gar der letzte!) sein wird. Denn seit dem unglücklichen Sturze vom 20. April v.J. merke ich die zunehmende Alters-Rückbildung sehr, und glaube nicht, daß ich noch einmal in die Höhe komme; – wenigstens nicht zum Reisen und Bergsteigen, zum Turnen und Schwimmen! ||
Die Flut der eingegangenen Glückwunsch-Schreiben zum 16.2. war diesmal wieder sehr groß, mehrere hunderte, so daß ich wieder mit der beiliegenden gedruckten Dank-Karte mir helfen muß, und nur besonderen Freunden (wie Sie!) persönlich schreiben kann. Diese lebendige Teilnahme von (meistens unbekannten!) Freunden aus allen Weltteilen, meistens mit besonderem Hinweis auf den Monismus und dessen Begründung durch meine „Welträtsel“, hat mir sehr wohl getan und ist der beste Lohn für alle Mühen und Kämpfe eines halben Jahrhunderts!
Nun noch einen artistischen Dank für die hübsche Porträtkarte: „Wilhelmine im Schnee“ – und die Bitte, mir auch im neuen Lebensjahr Ihre alte Freundschaft zu erhalten!
Treulichst Ihr alter
Ernst Haeckel.