Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Orotava (Teneriffa), 26. Dezember 1912

Orotava Hotel Martinez d. 26. December 1912

Hochverehrter lieber Freund und Lehrer!

Ihr lieber Brief war uns eine große Weihnachtsfreude; er war bei Reimers liegen geblieben, bis meine Frau gelegentlich einer Weihnachtsbesorgung in den Laden kam und gefragt wurde ob der Brief etwa für uns bestimmt sei. Ich hatte übrigens ohnedies in Absicht Ihnen zu schreiben, weil durch die herrliche Natur und noch mehr durch den Reichthum der pelagischen Thierwelt auf das lebhafteste an Sie erinnert wurde. Der Reichthum an Radiolarien || besonders in der Tiefe von 30 Metern ist ein ganz enormer. In kleinen Partien von pelagischem Mulder zählte ich über 200 Radiolarien, meist Acanthometren und Acanthophraeten. Auch die Ausbeute an Thalassicollena und Sphaerozoiden war eine sehr große. Sie würden Ihre helle Freude gehabt haben, wenn Sie bei Ihrem Studium ein so wunderbares Material gehabt hätten.

Ganz begeistert sind wir von der Gegend. Meine Frau und Tochter sind gut zu Fuß und so haben wir schon manchen schönen Ausflug gemacht. Auf den Pic haben wir uns freilich noch nicht gewagt. Doch steht er auf dem Programm. || Wir wollen 3 Tage für die Partie in Aussicht nehmen um längere Zeit in den Cañadas bleiben zu können. Wir werden die Tour bequemer machen als Sie es seiner Zeit gethan haben. Das muß ja eine gewaltige Parforce-tour gewesen sein.

Mit Bedauern habe ich aus Ihrem Brief entnommen, daß Sie, der Wanderfrohe, nunmehr an das Zimmer gebunden sind. Sie müssen sich dann im Gedächtniß das Viele Herrliche zurückrufen, welches Sie erlebt haben. Das ist ja das Geschick des Alters, daß es mehr in der Vergangenheit lebt, als in der Gegenwart. Ihnen wird dieses Rückschauen in die Vergangenheit besonders genuß-||reich sein, da Ihr Leben inhaltsreich verlaufen ist, wie es bei nur wenigen Menschen zutrifft, reich an Erfolgen, an Frohem und Ernstem, an Liebe und Freundschaft, wie an Kampf. Mich freut es, daß Sie eifrig daran sind Ihre Lebenserinnerungen aufzuschreiben.

Ostwalds haben uns schon vor 4 Wochen verlassen. Seit dem 6. December ist er wieder auf seinem Landsitz. Seine unverwüstliche Lebensfrische und Manches in seiner äusseren Erscheinung erinnerten meine Frau und mich lebhaft an Sie. Abgesehen von den Zeiten, in denen er malte und ich Zoologie trieb, waren wir viel zusammen und haben uns sehr gut mit einander verstanden. Ich werde ihm demnächst schreiben und ihm von Ihrem Brief erzählen.

Wie froh bin ich, daß die europäische Lage wieder friedlicher geworden ist. Unser Otto ist Vicefeldwebel in der Artillerie, hätte im Fall eines Krieges mit ins Feld rücken müssen. Das wäre für uns, welche wir noch an dem schweren Verlust dieses Frühjahrs leiden, sehr hart gewesen. – Viele herzliche Grüße sendet Ihnen in alter Freundschaft und Verehrung

Ihr dankbarer

Richard H.

Auch meine Frau läßt Ihnen und Ihrer Frau alles Gute wünschen.b

a korr. aus: Thassicollen; b Text weiter am oberen Rand von S. 4: Auch meine … wünschen.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
26.12.1912
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30534
ID
30534