Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 18. Juni 1902

ZOOLOGISCHE

SAMMLUNG

DES STAATES.

ALTE AKADEMIE.

MÜNCHEN, DEN 18. Juni 1902.

Hochverehrter, lieber Freund!

Durch die Verlagsbuchhandlung wurde mir die neue Auflage Ihrer Schöpfungsgeschichte zugesandt. Das Bedürfniß Ihnen herzlich zu danken bringt zur Ausführung, was ich schon seit Wochen beabsichtige, aber immer von Tag zu Tag hinausgeschoben hatte, Ihnen von hier zu erzählen. Ich bin leider ein schrecklicher Briefschreiber geworden, dem der Entschluß zu schreiben äußerst schwer fällt, selbst denen gegenüber, die ihm am nächsten stehen.

Es ist doch für Sie ein schöner Erfolg, daß die || Schöpfungsgeschichte immer wieder neue Auflagen erlebt selbst zu einer Zeit, in welcher die allgemeine Stimmung in weiten Kreisen eher ungünstig als günstig ist. Unwillkürlich denke ich dabei an die Zeiten, als die Schöpfungsgeschichte zum ersten Mal erschien und ich unter Ihrer Leitung in die Zoologie eingeführt wurde. Damals herrschte ein fröhlicherer enthusiastischerer Geist im Vergleich zu jetzt, wo alles viel ernster und auch nüchterner geworden ist und wieder die mühsame Arbeiten nach praecis formulirten Problemen im Vordergrund steht.

Mir liegen solche Gedankengänge besonders nahe, da ich auf ein halb Jahr mühseliger Arbeit zurückblicke. Mich quält das alte Problem. Ursache und || Nutzen der geschlechtlichen Fortpflanzung. Ich habe ausgedehnte Culturversuche mit Actinosphaerien gemacht und ganz merkwürdige Vorgänge dabei aufgefunden, deren genaues Studium an eingelegtem Material mich noch Monate lang beschäftigen wird. Während der Osterferien war ich nur kurze Zeit fort. Ich machte mit meinen beiden Buben eine Fußtour am Garda-See. In Riva traf ich mit Schwalbe zusammen und besprach mit ihm die wundervollen Funde der Neuzeit, durch welche der alte Neanderthaler wieder zu Ehren gekommen ist. Schwalbe war sehr entrüstet über Virchow’s ganz unqualificirbares Auftreten in der interessanten Frage.

Für den Sommer haben wir wieder einmal in Berchtesgaden gemiethet. Seit dem Sommer, wo || wir mit Ihnen einige frohe Tage daselbst verleben konnten, bin ich nicht wieder in diesena schönsten Theil unseres Gebirges gekommen. Haben Sie nicht Lust, auch wieder einmal nach Berchtesgaden zu kommen. Ich würde mich ganz ausserordentlich darüber freuen.

Meine Münchener Stellung ist jetzt sehr viel angenehmer geworden, dadurch daß mein Schüler Doflein, ein vortrefflicher tüchtiger Mensch, zweiter Conservator geworden ist und mir die Sorge um die Staatssammlung zum großen Theilb abnimmt. Ich habe ihn bestimmt, sich der systematischen Richtung in der Zoologie zu widmen, da ich glaube, daß die wichtigen Fragen: Thiergeographie, Variabilität, Anpassungsfähigkeit etc immer mehr in den Vordergrund treten werden und nur durch intelligente Systematiker gefördert werden können.

Herzlichst grüßt Sie und die Ihren in alter Anhänglichkeit

Ihr treu ergebener

Richard Hertwig.

a korr. aus: diesem; b eingef.: zum großen Theil

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.06.1902
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30503
ID
30503