Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 27. November 1896

München d. 27. November 1896.

Hochverehrter, lieber Freund!

Mir thut es herzlich Leid, daß Ihnen der Winter neue Sorgen um Ihre liebe Emma gebracht hat. Es ist so traurig, ein theures Angehörige leiden zu sehen, ohne die Möglichkeit ihm Hilfe zu bringen.

Um so mehr bewundere ich Ihrea geistige Elastizität, daß Sie bei so vielen Sorgen sich eine so große Schaffensfreudigkeit bewahrt haben, wie Ihre letzten Werke erkennen lassen. Ich möchte Sie fast darum beneiden. Ich habe jetzt die schlimmen Zeiten hinter mir. Meiner Frau geht esb trotz des trüben Nebelwetters || fortgesetzt gut. Unsere kleine Marianne hat zwar viel vomc Zahnen zu leiden und hat uns die letzten Nächte oft geweckt. Aber es ist doch Nichts bedenkliches. Wenn die Zähne durchgebrochen sind, steht zu hoffen daß wir bessere Zeiten haben werden. Trotz Alledem fehlt mir die rechte Freudigkeit. Überall wo ich hinsehe, sehe ich das Unzulängliche meines Wesens. Das erzeugt eine wie ein Bleigewicht auf mir lastende Unzufriedenheit. Ohne sie würde mir manches besser gelingen als es jetzt der Fall ist. Sie werdend mir vielleicht in den letzten Jahren oft böse gewesen sein, daß ich so wenig habe von mir hören lassen. Seien Sie versichert, daß in meiner treuen verehrungsvollen Gesinnung Ihnen gegenüber sich Nichts geändert hat. Aber zum Briefschreiben fehlt es mir meistens an || der rechten Stimmung.

Für die Übersendung Ihrer systematischen Phylogenie sage ich Ihnen meinen besten Dank. Ich habe den die Echinodermen behandelnden Theil unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Gegenbaur’schen Festschrift eingehend studiert. Mir war es immer das Wahrscheinlichste, daß die Echinodermen aus bilateral symmetrischen Formen durch Übergang zur sitzenden Lebensweise entstanden seien. Um so mehr interessirt es mich daß Sie in den Amphorideen solche Urformen gefunden haben.

Ob die Holothurien wirklich so ursprüngliche Formen sind wie Sie annehmen? Mir will es nicht in den Sinn. Wie die Synaptiden lehren, ist ese eine Gruppe, bei welcher die Echinodermen-||charaktere in Rückbildung begriffen sind. Ebenso spricht die Lage des Nervensystems dagegen, daß die Holothurien an der Wurzel des Echinodermenstammes abgezweigt sind. Daß die fünfstrahlige Anordnung des Ambulacralsystems, die auch bei den primitivsten Formen gar nicht zur Lebensweise passt, überall erhalten ist, läßt dieses Merkmal als einen durch lange Phylogenie tief eingewurzelten Charakter erscheinen. Daher möchte ich die Holothurien als hochgradig rückgebildet ansehen und von diesem Gesichtspunkt aus die Anordnung des Geschlechtsapparats und den Bau des Skelets beurtheilen.

Zu einer Auflösung des Würmerstammes habe ich mich auch in der neuen Auflage der Zoologie, deren Druckf demnächst beginnen soll, nicht entschließeng können. Zunächst aus didaktischen || Gründen. Ich halte es nicht für zweckmäßig die Zahl der coordinirten systematischen Einheiten zu sehr zu vermehren. Das erschwert dem Anfänger den Überblick über das System. Weiterhin habe ich aber auch meine wissenschaftlichen Gründe.

Ich bin der Ansicht daß h Plattwürmer und Ringelwürmer sich gegenseitigi näher stehn, als erstere den Coelenteraten und letztere den Arthropoden. Plattwürmer und Coelenteraten stimmen nur in negativen Merkmalen überein, daß sie keine Blutgefäße und keinen Enddarm haben. Letzteres Merkmal kann nur aufgeführt werden, wenn man Rotatorien und Nemertinen von den Scoleciden ausscheidet. Für ein solches Verfahren finde ich aber wiederum keinen || Grund. In der Bildung des Nervensystems der Excretionsorgane, in der Beschaffenheit der Muskulatur, gleichen Rotatorien und Nemertinen vollkommen den Plattwürmern, die ersteren weiterhin noch weiterhin ein Geschlechtsapparat (Differenzirung von Keimstock und Dotterstock), die letzteren noch in der Bildung der Larvenformen. Wie wenig Werth aberj auf das Blutgefäßsystem zu legen ist, geht schon daraus hervor, daß alle neueren systematischen Versuche Sagitten, Nematoden, Bryozoen, Rotatorien mit Blut führenden Würmern in einer und derselben Gruppe belassen. Nemertinen und Nematoden sind radical || verschieden, Nemertinen und Turbellarien dagegen k verhalten sich zueinander wie höher und niedriger organisirte l Repraesentanten einer und derselben Gruppe. Wenn überhaupt irgend eine Gruppe verdient, von dem Würmerstamm im alten Sinn ausgeschlossen zu werden, so sind es die Nematoden.

Was nun Anneliden und Arthropoden anlangt, so fällt es mir selbstverständlich nicht ein an einer näheren Verwandtschaft derselben zu zweifeln. Nur halte ich die Intimität dieser Verwandtschaft für geringer, als m Sie sie darstellen. Ein gewaltiger Unterschied beider Gruppen ist durch || die Beschaffenheit der Haut gegeben. Der Chitinpanzer der Arthropoden ist Grund, daß die Sinnesorgane, die Muskulatur, der histologische Charakter der Epithelien (kein Flimmerepithel!) ganz andere geworden sind. Dazu die gegliederten Extremitäten und die bei allen Arthropoden in gleicher Weise eingetretene ausserordentlich charakteristisch Umgestaltung des Blutgefäßsystems!

Ich folgere nun folgendermaßen. Ich halten einen phylogenetischen Zusammenhang aller Würmer (Plathelminthes, Rotatorien, Anneliden etc) für erwiesen; ebenso den Zusammenhang von Arthropoden und Anneliden. Phylogenetische || Speculationen können also bei der Abgrenzung der Gruppen nicht Maaßo gebend sein, da sie in utramque partem verwendbar sind. Urtheilt man aber nach den thatsächlich vorhandenen Unterschieden, so ist die Trennung von Arthropoden und Würmern größer als die Trennung von Anneliden und Plattwürmern.

Sehr dankbar bin ich Ihnen, daß Sie mich auf den historischen Schnitzer in der Etymologie von Leuckart’s Arbeiten aufmerksam gemacht haben. Ich muß da bei meinen Notizen mich verschrieben haben. Über den Ursprung des Namens Arthropoden habe ich Bestimmtes nicht ausfindig machen können. Gerstäcker || führt in Bronn’s Classen und Ordnungen den Namen auf Siebold zurück. Den Versuch Latreille’s den Ausdruck Condylopoda einzuführen habe ich absichtlich unerwähnt gelassen, weil er, soweit ich es beurtheilen kann, nicht durchgedrungen ist.

Ihnen zu Lieb habe ich mich entschlossen, auch die übrigen Manatis-Embryonen an Kükenthal einzusenden. Er darf mir aber nicht die Schädel zerschneiden. Ich werde übrigens ihm selber darüber schreiben.

Das Haus, in dem wir wohnen, ist nun doch noch verkauft worden zum Preis von || 70.000 Mk. Wer die Verhältnisse beurtheilen kann, findet den Preis zu hoch. Der neue Käufer möchte gern, daß wir im Haus wohnen bleiben, doch möchte er uns steigern. Ich weiß noch nicht, ob ich darauf eingehe.

Herzlichst grüßt Sie und die Ihren

Ihr treu ergebener

R. Hertwig.

a korr. aus: die; b eingef.: es; c korr. aus: am; d korr. aus: unleserlich; e eingef.: es; f gestr.: die, eingef.: deren Druck; g korr. aus: entscheiden; h gestr.: sich; i eingef.: sich gegenseitig; j eingef.: aber; k gestr.: sind; l gestr.: Thiere; m gestr.: man; n korr. aus: halten; o korr. aus: maaß

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
27.11.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30490
ID
30490