Oscar Hertwig an Ernst Haeckel, Bonn, 1. November 1871
Bonn, den 1sten November 1871.
Hochgeehrter Herr Professor!
Seit ein und einer halben Woche sind wir wieder in Bonn anwesend und genießen die Nebeltage, mit denen der Rhein im Herbst freigebig zu sein pflegt. Bis jetzt haben die Collegien nur zur Hälfte angefangen; denn da heute und morgen zwei Festtage zu feiern sind, hielt ein großer Theil der Professoren es für gerathener, erst am Freitag das Semester zu beginnen. Professor Schultze wird diesen Winter ebenfalls von Decanatsgeschäften geplagt, die in Bonn wahrscheinlich noch zeitraubender sein werden als in Jena. Bei unsrer || Ankunft haben wir mit ihm Rücksprache genommen, ob wir den Winter über bei ihm eine histiologische Arbeit ausführen könnten, doch kann Professor Schultze den Winter über auf der Anatomie nicht mikroskopiren lassen da es ihm im alten Gebäude an den nöthigen heizbaren Räumen fehlt und er nur im Sommer Seminar hält. Wir werden daher zu Hause eine Arbeit anfangen und ihm über unsre Resultate zeitweise Bericht abstatten. Von dem Zustandekommen derselben hängt es ab, wann wir unser Doctorexamen machen werden. Während der || Weihnachtsferien bleiben wir auf der Universität, da der Weg zu lang und die Zeit zu knapp zugemessen ist.
Vergangenen Sonntag haben wir der Frau Prof. Bleek in ihrer neuen Wohnung einen Besuch abgestattet und trafen wir sie und ihre Fräulein Tochter wohl an. Mit der Wahl des neuen Logis waren sie recht zufrieden.
Der Sohn von Virchow der väterlicher Aufsicht entronnen studirt jetzt hier in seinem dritten Semester.
Die Anzahl der Mediciner hat im Vergleich zum Sommersemester nicht zugenommen und wird dies für die Kliniken einigen Vortheil gewähren, da das Krankenmaterial || kaum für eine kleine Zahl Practicanten ausreichend ist. Von hier wüßte ich Ihnen sonst nichts Neues, was der Erwähnung werth wäre, zu melden.
Sollten die Separatabdrücke unsrer Arbeiten erschienen sein, so ersuche ich Sie unsre Adresse Herrn Prof. Gegenbaur, welchen wir Sie bestens zu grüßen bitten, mittheilen zu wollen.
Mit herzlichen Grüßen an Sie und Ihre werthe Familie
Ihr treu ergebener
Oscar Hertwig.