Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Minden, 18. April 1864

Mein geliebter Freund!

Als der Brief Deines Bruders hier eintraf, warst Du bereits von Jena fort und ich wußte nicht, unter welcher Adresse Dir am besten schreiben. Ebenso gut, da damals Dein Schmerz so ungeheuer sein mußte, daß es eine Albernheit von mir gewesen wäre, Dir Trost zusprechen zu wollen, wo Trost und Fassung nur im eignen Innern gefunden und höchstens von den nächsten Blutsverwandten eine Art von Linderung gewährt werden konnte. Jetzt bist Du wahrscheinlich wieder in Jena angekommen, um Dich Deine geliebten, mit Dir trauernden Eltern; die Wunde, wenn auch noch überwältigend schmerzhaft, nicht mehr frisch. Mein armer, beklagenswerther Freund und Jugendgenosse; Alles blüht in des Frühlinges Pracht und Freude wieder auf; die Berge, die Du so oft mit Deiner herzinnig geliebten Lebensgefährtin durchwandertest, sie sind die alten, noch eben so schön; nur Du bist nicht mehr derselbe, Dir fehlt mehr als die Hälfte, denn die zurückgebliebene Hälfte trauert und krankt. Wer wollte mich schelten, daß ich Deine Wunde von Neuem aufreiße, Du selbst reißest sie hundert und aberhundert Male auf. Das süßeste Glück für die trauernde Brust Nach der schönen Liebe verschwundener Lust Sind der Liebe Schmerzen und Klagen.

Mein geliebter Freund! ich fühle tief, was ich schreibe. Ich kenne die Angst, die fürchterliche für den Verlust des Theuersten auf Erden. Ich habe diesen Winter meine kleine Martha verloren und meine Frau lag 14 Tage || dem Tode nahe. In einsamer Nacht saß ich an der Wiege des geliebten kleinen Wesens, das den bangen Schmerzenslaut mit jedem Athemzuge in die Stille der Nacht hinausseufzte, bis es ¼ nach 2 Uhr Morgens verschied, und zwei Zimmer weiter lag meine Frau, die wohl von der plötzlichen Erkrankung des Kindes wußte, aber den Tod nicht ahnte, krank nieder; und als ich mit Gandtner das Kindchen zu Grabe brachte, da hattea sich bereits die Krankheit meiner Frau als eine Lungenentzündung herausgestellt und der fürchterliche Gedanke beherrschte mich, daß in einigen Tagen auch meine liebe Hermine ebendahin getragen werde. Die Krankheit brach sich und jetzt habe ich auch die Überzeugung, daß nicht einmal Nachwirkungen zurück geblieben sind.

Was ich gelitten, davon habe ich selbst nur noch eine schwache Vorstellung. Der Gedanke, Frau und Kind verloren zu haben, wieder allein in der Welt dazustehen, war b mir ein vertrauter geworden und in welchem ich bereits resignirt war, ehe ich zu resigniren brauchte. Aber die Resignation, dieses kalte philosophische Präparat, nützt nur halb; ich habe empfunden, was der Mensch an der idealen Welt hat, die mir noch immer als liebender Genosse die Hand gedrückt und mir nie etwas zu Leide getan hat. Die Religion ists, die heute über das glänzende, morgen über das arme Leben erhebt, die den Ingrimm über || Politik, den Ärger in jeder beliebigen Form immer wieder überwindet, bändigt und dem Geiste die Ruhe wieder giebt, die er längere oder kürzere Zeit verloren. Ich meine nicht die Religion die von den Kanzeln gepredigt wird, ach, das ist ein recht armes Aschenbrödel, fürchtet sich vor der Wissenschaft und vor dem kritischen Forschergeiste. Meine Religion wandert gerne, am liebsten sogar mit der kühnsten Wissenschaft, bis in die Unendlichkeit des Sternenhimmels hinaus, bis in die ungemessenen Millionen Jahre der Vorzeit, bis in die luftigen Gasbälle der Urwelt zurück, bis in die kleinsten Wunder des Mikroskop, bis in die kleinsten Größen der Atome hinein; überall geht sie mit, kein Flug ist ihr zu wagehalsig, zu kühn; bewahre, wo die kühne Wissenschaft stutzig wird und anhält, sich besinnt und grübelt, nach dem Wege sucht, der ihren Blicken zu verschwinden droht, da fliegt meine Religion noch viel weiter, da reißt sie sich los von der Freundin, kreist in dem reinsten Äther höher und höher, bis sie wieder umkehrt und die noch immer sinnende und rechnende Wissenschaft wieder trifft und in ihrer belehrenden und fesselnden Gesellschaft immer neue Wunder der Welt entdeckt und in ihrer Freude sich selbst ebenso mitfreuet. Und wenn sich ein Streit erhebt zwischen beiden, sie wissen beide, daß die größten Divergenzen schließlich sich wieder treffen. Ohne den Glauben wäre ich ein Mann mit dem klarsten Auge, bewunderte die Herrlichkeit der Sonne und sähe ihren Glanz, aber ich fühlte || nicht ihre Wärme, ich wäre sehend – aber ohne Empfindung der Wärme. Ohne Wissenschaft fühlte ich die Wärme der Sonne, aber sähe nicht ihren herrlichen Strahl; ich hätte Wärmeempfindung, wäre aber blind. – Die Wissenschaft führt das eine Mal in die prächtigen, aber eiseskalten Wunder der Polarwelt, dann führt die Religion in die warme Kajüte des eingefrorenen Schiffes; die Wissenschaft zeigt ein andermal die Herrlichkeit tropischer Gegend, die höchste Anmuth der reizendsten Landschaft, alsdann zeigt die Religion den armen Wurm, der eben unter schwerer Verletzung sich krümmt, den scheuen in jedem Augenblick einen Feind fürchtenden Vogel. Die Religion ergänzt jedesmal das einseitige Tableau der Wissenschaft und versenkt dadurch den ganzen Menschen, Kopf und Herz, in den Urgrund von Allem und das ist Gott, der unbegreifliche, der übersinnliche und der sich doch auf jedem Tritte sich mir zeigt. c Daran macht mich nicht irre der Gedanke, wie der Mensch entstanden sein könnte. Mag er sich aus dem Thier entwickelt haben, meinetwegen; kann es bewiesen werden, so sind wir nur eine Entdeckung reicher, d aber es bleibt doch bestehen, daß der Mensch – Mensch ist und was ich daran habe, sagt mir mein Herz. Und eben dieses Herz verlangt und fordert die Unsterblichkeit. Und deshalb ist sie für meinen Glauben eine unerschütterliche Gewißheit. Wie es geschieht, weiß ich nicht, beunruhigt mich auch nicht. Denn was die Atome sind, weiß ebenso wenig ein Mensch, was Raum ist, der endlose Raum, begreife ich auch nicht, || wozu die Welt da ist, kann der gelehrteste Mensch mir nicht mathematisch beweisen. Wie die Wörter der Sprache, sobald sie über die Namen der Dinge hinausgehen, unberechenbar werden, ist bekannt. Subjectiv, objectiv – real – ideal – Alles wird schließlich vor dem grübelnden Verstande ein Wirrwarr oder tabula rasa. Immerhin, je toller – desto besser. In Allem und trotz Allem fühle ich, daß ich etwas bin und dieses Ich, diese Persönlichkeit tritt in Verkehr mit dem Unbegreiflichen in geheimnißvoller Ahnung; dort ist mein Schwerpunkt, dort ist ein seliges Ruhen, von wo man auf Momente in das bunte Kaleidoskop hineinschaut, nun nur allzubald wieder im selben Kaleidoskop selbst wieder mit herumgewürfelt zu werden.

Mein lieber Freund, wie gerne wäre ich bei Dir, um von Dir gefördert zu werden und vielleicht auch Dich zu fördern; um Dich zu trösten und zu erheben, so weit es der arme Mensch kann, wenn erst die heftigsten Wogen des Unglücks sich gelegt haben.

Grüße Deine lieben Eltern und Deinen Bruder herzlich von mir.

Die Versicherung der vollsten Theilnahme und herzliche Grüße von meiner Hermine.

Dein

Ludwig.

Minden den 18. April 1864.

a korr. aus: hatten; b gestr.: bei; c gestr.: , wenn ich i; d gestr.: die

 

Briefdaten

Empfänger
Datierung
18.04.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 2330
ID
2330