Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 31. Dezember 1899

Bremen, 31. Dezb. 1899.

Mein lieber alter Freund!

Viel Zeit zu Rückblicken in die Vergangenheit hat mir das Leben bisher nicht gelassen, aber der arithmetische Abschnitt in unserer Zeitrechnung, so bedeutungslos er für die wirkliche Entwickelung auch ist, giebt doch einen Anlaß, der Freunde zu gedenken, die uns auf unserm Wege geleitet haben. Wir sind und bleiben nun doch einmal Kinder der zweiten Hälfte des 19. Säculums, wenn auch Anfang und Ende unsers Lebens über diesen Zeitraum hinausreichen. Ich setze voraus, daß es nicht Deine Absicht ist, das kommende Jahrhundert in die Schranken zu fordern; es lauten daher auch die Wünsche, die ich Dir bei der Wende von der 18 zur 19 schicke, persönlicher als sie zur Zeit des wogenden Kampfes gelautet haben würden. Neben der in engerem Sinne streng wissenschaftlichen Zoologen-Thätigkeit hast Du Deine besondere Aufgabe darin gefunden, den || neuen Anschauungen über die Entwickelung des organischen Lebens und über die Stellung des Menschen in der Natur Geltung zu erringen. Der Sieg ist erfochten, denn ernst zu nehmende Gegner giebt es seit Jahrzehnten nicht mehr. Zu der Sysiphus-Arbeit, die klugen Leute, die „nicht alle werden“, aufzuklären, braucht man sich nicht zu verurteilen. Die Welt wäre viel langweiliger als sie ist, wenn es keine Schauspieler, Wunderthäter, Heuchler, Pfaffen und Spiritisten gäbe. Auch in der Biologie sind uns ja die „Naturspiele“, die formae monstrosae et teratologicae besonders lieb und wert. Als Studenten haben wir von dem Herrgott gesungen, der über die thörichten Sachen, die die Menschen machen thun, lachen muß. Jetzt als Jubelgreise können wir selbst, diese Lacherrolle übernehmen.

Doch nun zu meinen persönlichen Wünschen für Dich und die Deinigen, Wünschen, denen ich freilich keinen bestimmt gezeichneten Ausdruck verleihen kann. Ich möchte nur die Hoffnung aussprechen, daß sich die Verhältnisse in || Deiner nächsten Umgebunga befriedigend gestalten mögen und daß Dir selbst Gesundheit und Frische erhalten bleibe.

In den letzten Jahren hat mich eine zwar recht mannichfaltige, aber auch unruhige und zersplitternde Berufstätigkeit so in Anspruch genommen, daß ich für wissenschaftliche Arbeiten kaum noch irgend welche Zeit behalten. Morgens im Zuchthause, dann Herumklettern auf Schiffen, dann Akten und Bureauarbeiten, schließlich privatärztliche Besuche, Verhandlungen im Irrenhause oder Bakteriologischen Institut u.s.w. u.s.w. Und in allen diesen Dingen soll man Autorität sein, soll den Stand der Wissenschaft vollständig beherrschen, muß die Literatur studiren und was sonst dazu gehört.

Von Zeit zu Zeit treibe ich zur Erholung noch ein wenig Botanik; ich möchte gern noch eine Rubus-Monographie abschließen, in der ich einerseits mit dem Wahngebilde der „absoluten und constanten Spezies“ auch in der äußeren Form gründlich aufräume, andererseits aber die wirklichen Typen viel schärfer und bestimmter charakterisire, als es die Speziesgläubigen bisher gethan haben. Bei dem unregelmäßigen gelegentlichen Arbeiten fürchte ich freilich, daß mir dieser Plan nicht so gelingt, wie ich möchte. ||

Bei den „Speziesgläubigen“ fällt mir Cuvier ein, dessen Geburtsort Mömpelgard Du ins Elsaß verlegst. Die Stadt liegt zwar an der früheren Grenze, ist auch einmal von württembergischen Fürsten beherrscht wordenb, hat aber doch immer zu Burgund und nicht zum Elsaß gehört. Die Stelle fiel mir auf, als ich in Deinen Welträtseln blätterte – zum Lesen komme ich jetzt leider, leider gar nicht mehr, abgesehen von dem meist wenig erquicklichen Fachgeschreibsel. Ich fürchte, daß ich schließlich nichts anderes mehr lese, als meine eigenen Gutachten; in einzelnen Monaten war das schon wirklich der Fall.

Fast hätte ich vergessen, Dir noch meinen herzlichen Dank für das neue Heft der „Kunstformen“ zu sagen, dessen Empfang eigentlich den ersten Anlaß bot, Deinen Namen auf meine Briefschuldenliste zu setzen.

Und nun – Schluß! Bitte, grüße Alle, die sich meiner freundlichst erinnern; ich bitte Dich, meiner gelegentlich freundschaftlichst gedenken zu wollen und mich den Deinigen bestens zu empfehlen.

Auf Dein Wohl! Avanti!

Mit herzlichem Gruße

Dein W. O. Focke.

a korr. aus: Gmgebung; b eingef. mit Einfügungszeichen: worden

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
31.12.1899
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1876
ID
1876