Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Berlin, 29. Juli 1. August 1856

Berlin d. 29. Jul. 1856.

Mein lieber guter Ernst!

Glaube nicht, daß ich nicht einsähe, mein beharrliches Schweigen müsse Dich befremdet haben; oder etwa gar, daß ich Deiner nicht mehr gedächte. So will ich Dir nur gleich mittheilen, daß dieses Schweigen eigentlich nur ein scheinbares ist; denn bereits 2 Briefe an Dich hatte ich geschrieben, – den einen fix u. fertig u. gesiegelt, den andern freilich unvollendet. Keiner aber kam bis zum Absender! – Magst Du das für eine „Finde“, für „faule Fische“ oder Verwandtes halten; dennoch ist es wahr, – und ich sage: glücklicher Weise kam kein Brief bis auf die Post, obschon Dich dies „glücklich“ wenig erbauen wird; denn ich bin so eingebildet zu glauben, daß Dir ein Brief besser gefallen haben möchte, als diese scheinbar abspeisenden Worte. – Ein Brief ist bereits älter als einen Monat, ein zweiter etwa 14 Tage alt; der dritte wird hoffentlich seine Bestimmung finden. – Aber wie ist das zugegangen, wie möglich gewesen??! – Ja, das ist eine ganz curiöse Geschichte, die Du zunächst erfahren sollst, indem ich mir nur vornehme, Dir einzig Thatbestände, facta mitzutheilen, ohne mich auf Entschuldigungen groß einzulassen. – Da muß ich denn gleich mit Etwas beginnen, das wiea „eine alte Geschichte“ klingt. Ich habe nämlich das vergangene Semester in einem steigenden Katzenjammer zugebracht; aber ich denke, ich habe, und nun ist’s wieder im Reinen. Deshalb bezeichne ist es auch als ein Glück, dessen Größe zunächst alle Berechnung übersteigt, daß ich Dir in der Zeit nicht geschrieben, resp. Dir die geschriebenen Briefe nicht gesandt habe. || So hoch ich grade in solchen Angelegenheiten Deinen Rath u. Deine Ansichten schätze, die ich aus Erfahrungen kenne, so würde ich Dich doch unnütz für diesmal gequält haben, und da ich dies fühlte, so verwarf ich die Briefe. – Nun worum aber handelte es sich denn, wirst Du fragen. Da darfst Du nun nicht etwa glauben, es sei so ein ganz gewöhnlicher Katzenjammer gewesen, wie er in den ersten Semestern kam u. ging, stürmte u. sich beruhigte; kurz ein solcher schülerhafter Anfall war es nicht. Aber er war von einer Stärke, die ich Dir am besten klarmache, wenn ich Dir sage, daß er in den letzten 2–3 Wochen, wo er am stärksten war, wirklich nach dem Gesetze von den aufsteigenden Potenzen zuzunehmen schien, bis endlich grade im stärksten Moment – wohl natürlicher Weise – plötzliche Windstille eintrat, so daß mir das Ganze wie ein Traum erscheint. Doch ich will Dich nicht länger mit solchen räthselhaften Schilderungen quälen. Das Ganze kam von einer höchst einfachen Frage her: was soll in Zukunft werden?

Wunderst Du Dich nicht mit mir, daß mich wieder solche nahe liegende Frage, die von Anfang meines Studiums an auf der Hand gelegen hatte, so in Alarm versetzen konnte? Dies ist wohl richtig, aber ich will gar keine Erläuterungen geben, sondern einfach Bericht erstatten u. Dir die Bemerkungen sparen. Du weißt, lieber Ernst, daß ich niemals Neigung zur Gymnasial-Carrière gehabt habe, bei der das glücklichste Loos Einen in einen beliebigen obscuren Winkel der preußischen Monarchie verwirft, wo man Zeit genug hat, sich selbst, aber sonst auch Nichts Anderes zu leben. Aber was will ich anfangen? – Die akademische Carrière versuchen?! – Das Versuchen ist mir so ziemlich || abgeschnitten; ich kann das nicht lange abwarten. – Eine praktische Laufbahn ergreifen? – Am Umsatteln war ich vor Kurzem nahe dran. Doch welche praktische Laufbahn stände mir offen? Meistens ist eine größere Portion Gesundheit u. Stärke dazu erforderlich, als ich aufweisen kann. So ist’s z. B, mit dem Bergmann, an den Du einmal gedacht hattest u. der mir sonst noch am nächsten liegen würde. – Aber ich habe bisher nicht studirt, blos mit der Absicht, ein Lehrer an irgend welchem Gymnasium zu werden. Das kommt mir, je länger je mehr, ganz fürchterlich vor.

Diese Frage mußte entschieden werden, und wenn sie mir etwas zu schaffen machte, so wirst Du Dich vielleicht nicht zu sehr wundern. Allerlei curiose Ideen fuhren mir durch den Kopf, um nur zum Schulmeister nicht gezwungen zu werden. –

Ich weiß nicht ob Du mich für einen solchen geschaffen halten mögest; mir scheint es nur ein Loos, das ich wo möglich vermeiden möchte. Doch diese Möglichkeit ist nicht einmal Wahrscheinlichkeit, geschweige denn, daß ich darauf bauen könnte. So werde ich mich schließlich doch wahrscheinlich dahinein zwängen müssen, die alten Träume aber nur Träume sein lassen. – O edles Philisterium! Was kann es Schöneres geben, als einen solchen – verzeih mir – Plackesel! – –

Viele solche Gedanken wollten mich wohl halb unwirsch machen. Du wirst sie gewiß alle sehr thörig u. unrecht finden; auch ich thue das zuweilen; aber Du wirst neben Deinem gerechten Tadel auch ein wenig Mitleiden mit mir haben, obschon es eigentlich jetzt gar nicht mehr nöthig ist, da ich eben völlig || außer aller Unruhe (mit der man noch weniger zu einem Ziele gelangt, als ohne sie) bin. – Und welches Resultat hat diese beruhigende Wirkung auf jenen stürmenden Zustand geäußert?

Ein ganz bestimmter Entschluß ist zwar noch nicht vorhanden; aber ich habe in diesem Semester die letzte Gewißheit über meine Stellung u. Richtung erhalten und das ist schon ein guter Grundstein. Die Beschaffenheit desselben wird Dir zwar jedenfalls bei näherer Sondierung wenig zusagen; doch daß dieser jetzt ganz unzweifelhaft feststeht, das läßt mich noch Hoffnungen hegen und mein Ziel fester ins Auge fassen.

Es ist vielleicht ganz passend, bei dieser Gelegenheit gleich einzuschalten, was ich während des jetzigen Semesters getrieben habe. Das bezieht sich natürlich zum großen Theil auf die gehörten Collegia, unter denen Du das bei „dem göttlichen Johannes“ obenan stellen magst. Seine Physiologie, wenn schon mir mitunter manches verloren gegangen ist, da ich weder ein gelehrter Anatomicus Pathologicus noch selbst Zoolog bin, noch auch meine vielen Lücken auszufüllen Zeit hatte, ist doch ganz dazu geeignet, Jedermann – selbst ganz unorganische Leute – dafür zu begeistern, zum mindesten einen deutlichen Begriff davon zu geben, was die Physiologie Begeisterndes für die enthielte, welche sich ihr ganz gewidmet haben. Wie schon jetzt grade wieder bei einem sehr allgemeinen Theil, der sehr viel Verwandtes mit der Einleitung enthält, nämlich bei den Seelen-Wirkungen. Ich hatte natürlich schon vorher erwartet, bei einem Mann wie Müller nicht die naturalistischen Grundsätze u. Anschauungen zu finden, wie so viele bedeutende Physiologen und Naturforscher überhaupt sie haben. Doch daß || er in der That im Herzen ein Gegner der Materialisten ist, das vermuthe ich mehr, weil ich es wünsche, als daß ich es mit Bestimmtheit behaupten könnte. Überhaupt hätte ich mir für meinen Theil in dieser Beziehung Müller mehr Entschiedenheit in der Darlegung seiner naturphilosophischen Stellung gewünscht; denn obschon er manchmal stark über die Natur-Philosophen, die Philosophen ins Besondere herzieht, so hat doch Keiner mehr als er in der Wissenschaft Philosophie – und zwar natürliche – angewandt. Das Letzte, was ihm zu Grunde liegt, glaube ich erst nach den letzten Stunden ahnen zu dürfen; und um eben dieser großen Vorsicht willen kommt es, daß manche von ihm behaupten, es lägen dieselben Consequenzen u. letzten Gründe in seinen Ansichten wie bei Karl Vogt u. s. w., nur daß er sie nicht geradezu aussprechen wolle. Ich für meinen Theil halte allerdings dies Räsonnement für falsch; doch wird es für einen, der ihn nicht näher kennt jedenfalls schwer, sich ein sicheres Urthil zu bilden. Doch darüber läßt sich ausführlicher mündlich sprechen. – Ein sehr interessantes Kapitel war vor allem auch das über Nerven. Im Allgemeinen freue ich mich, Deinem Rathe gefolgt zu sein und die Physiologie bei Müller angenommen zu haben. Deine beiden Jahrbücher der Physiologie habe ich öfters gut benutzen können u. Du sollst sie mit einem herzlichen Danke nächstes Semester unversehrt wieder erhalten. – Bei alle dem habe ich nie deutlicher eingesehen als grade in diesem Semester, daß ich nicht zum organischen Naturforscher geschaffen bin. Ich kann mir nicht helfen, es geht bei mir doch Alles auf die unorganische Natur hin, und wenn ich Dir sage, daß nur sie mir ein Ziel stecken kann, so wirst Du zwar wenig Sympathie dafür fühlen, doch hörst Du die Wahrheit. || Damit harmoniert das Übrige (Dir vielleicht auch sehr disharmonisch klingend): Botanik treibe ich gar nicht mehr; Alles was ich für sie gethan zu haben mich rühmen darf, ist ein Tausch mit Sànio. Im botanischen Garten war ich noch nicht, botanische Excursionen habe ich nicht gemacht, botanische Studien nicht getrieben, und werde das das ganze Jahr durchsetzen! (Du erinnerst Dich vielleicht ähnliche Worte gegen mich gebraucht zu haben). – Der Sommer ist schrecklich in Berlin, – natürlich, wenn er schon nicht so schlimm ist, als ich gefürchtet hatte. Außer einer Excursion nach dem Rüdersdorfer Muschelkalk mit Beyrich u. etlichen nach dem berühmten Kreuzberg habe ich daher von der Natur (?) nichts genossen. Dafür florieren einige Knochen von Kreuzberg in meiner Stube, die Du mir später bestimmen magst; und im Übrigen treibe ich nur Studium des Zimmers, vorzüglich Krystallographie. – Auch aus einer Reise kann diesmal Nichts werden; – so zerfallen alle schönen Pläne in sich; der mit dem Fichtelgebirge resp. Mainthal und Würzburg wäre doch närrisch schön gewesen! –

Ich habe vielmehr vor, die ganze Zeit auf Arbeiten zu verwenden, deren ich einige sehr nöthige habe. Und in den nächsten Semestern – denn ich denke doch noch ruhig fortzustudieren – wird nichts als Mathematik getrieben, daß es eine Lust sein soll! Fühlst Du Dich nicht begeistert von diesem Gedanken? – Doch ohne Ironie, es muß sehr stark geschehen, der oben erwähnten Gründe halber.

Einmal muß man doch anfangen, sich ein Grundstein zu legen für die Zukunft, und diesen Endzweck im Auge muß ich die Zeit zusammen || nehmen, da mir nicht mehr viel bleibt. Denn bisher habe ich – in Bezug auf ein „Oberlehrer-Examen“ – viel zu viel Allotria getrieben; das will denn wieder eingebracht sein. Du wirst es also vielleicht erklärlich finden, daß auch ein Nicht-Beamteter, ein weit simpleres u. ungewichtigeres Individuum, als so ein [unendlich]b würdiges Institut von einem „pathologisch-anatomisch-medizinisch-mikroskopirenden“ Dr. chir. et med (in spee) wie Du, ja einer, der nichts weiter zu sein sich rühmen zu dürfen wagen kann als ein „st. ph.“, daß dieser dennoch zu Zeiten auch keine Zeit zu haben behaupten mag. – Daher sollst Du auch diesmal keinen so langen Brief erhalten, als Du verdientest. Dabei vertröste ich mich zumal auf Dich selbst; denn Du wirst wohl noch vor dem 15ten August hier erscheinen mit dem nöthigen Gefolge von mikroskopischen Krankheiten, die nun einmal leider aus Würzburg hieher versetzt werden sollen. –

Dann haben wir noch Manches, ja sogar Vieles zu sprechen, so von Müller, wie von uns selbst u. anderen Personen u. Dingen. Dann bin ich auch neugierig, Deine Ansichten zu hören, ob Du mich zu einem Schulmeisterlein fähig hältst. Doch davon genug.

Meine Lebensweise ist ziemlich zurückgezogen, wie natürlich. Denn nachdem ich bis 1 Uhr im Colleg gesessen, bis 2 etwa gespeist habe, so bleibt eben nicht zu viel Zeit für Arbeiten, und dann noch weniger zu anderen Dingen.

Weißt Du vielleicht etwas von Richthoffen? – Von Claparéde, der heut Morgen (1/8) nach der Schweiz abgereist ist, hörte ich, daß R. wahrscheinlich in Botzen oder Meran sich befindet, wo er eine geognostische Aufgabe (die er sich selbst gestellt hat, nicht von der K.K. geol. Reichsanstalt erhalten) zu lösen vorhat. || Lachmann ist wohl; aber ich sehe ihn selten; gewöhnlich treffe ich ihn nicht zu Hause u. zu mir kommt er nicht. Neulich sah ich auch den majus Hein, der mich fast nicht zu kennen schien; – freilich natürlich.

Andere Bekanntschaften werden Dich kaum interessiren, da es Mathematiker sind, so ein Sohn des Prof. Neumann in Königsberg, der als Dr. phil. jetzt hier wohnt; ein, wie es scheint, trotz seiner Stille netter Mensch. So bleibe ich denn Dir, alter Junge, in der früheren Weise treu u. hoffe das Gleiche von Dir.

Meine Tante erzählt mir, daß Deine Mutter krank sei; möge es sich recht schnell wieder bessern u. ganz legen, wenn es nicht etwa schon wieder sich ins Gleichgewicht gefunden hat. Was nun aus der übrigen Reise Deiner Eltern werden wird, weißt Du wahrscheinlich selbst nicht. Wirst Du sie vor dem nächsten Semester noch sehen? – Auf jeden Fall bitte ich Dich, wenn Du sie mündlich oder schriftlich sprichst, mich ihnen herzlich zu empfehlen.

Aus Halle habe ich keine Nachricht; aus Merseburg (von Hetzer) liegt ein langer Brief zur Beantwortung vor. Er klagte etwas über seine Verhältnisse u. wird mit dem Examen wohl noch bis Ostern warten müssen.

Vorläufig wohne ich noch in der alten Stube; werde aber für den Winter – vielleicht bald – mich wohl wo anders hin wenden. – Nun sei mir also herzlich gegrüßt!

Dein alter treuer

Weiß.

Berlin Juli am letzten u. August am ersten.

[Nachschrift am Rand der ersten Seites des zweiten Dbl.]

Entschuldige, daß ich Dein schönes, reizendes, liebliches, vortreffliches, harmonisches, göttliches – und doch billiges Porträt nur so auf dem Rande erwähne, was Du als ein Zeichen ansehen magst, daß es sich eben am Rande verstehe, daß dasselbe alle obigen Epiteta u. noch viel mehr verdient. Fortan soll es bei mir die Stelle des schwarzen alten einnehmen.

a eingef.: wie; b mathematisches Symbol für: unendlich

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
01.08.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 16645
ID
16645