Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Halle, 30. Juni 1854

Halle Juni am letzten, anno domini 1854.

Mein lieber Häckel!

Mit großer Entrüstung sprichst Du Dich gegen das lange faule Stillschweigen zwischen uns aus, weiß auch gar nicht wie’s kommt. Sonst – zu den schönen Zeiten (!), wo man noch Pennal war (!!), und noch nicht an temporärem schwulibus pecuniariis litt (!!!) – ja sonst war ich immer, oder doch mitunter fleißig im Briefschreiben, habe Dich wohl auch unnütz arg verärgert mit Briefen: und jetzt? – – Doch ich weiß, wie’s kommt. Nun als edler Studio, da hört man dies und das und sieht dieses und jenes und wünscht den und jenen dazu und denkt …. ja denkt, doch über’s Denken kommt man nicht hinaus. Wie oft habe ich Dich, alten lieben Jungen, hergewünscht; habe das Wetter, die Umstände und was weiß ich, verwünscht, daß aus der Harzreise nichts wurde, habe, ja – was weiß ich. Aber zu einem vernünftigen Briefe sollte es durchaus nicht kommen; kaum daß ich es dann und wann zu ein paar Zeilen brachte, und jetzt scheint es mir wieder so zu gehen, obgleich ich großbrotig [!] mit einem ganzen Quartbogen anfange. – Es ist doch auch wenig Zeit da, leider. Den ganzen Tag ist man beschäftigt und wenn ich jetzt früh um 7 Uhr fort gehe, so komme ich mitunter erst 4 Uhr Nach Mittag zu Hause. Die ganze Zeit schlägt man fast todt mit Collegiis. – Mit einer temporären Geduldsprobe beginnt die schöne lange Reihe, mit Schlechtendal; doch muß ich zu seinem Lobe sagen, nur mit einer temporären, wenngleich man manchmal 14 Tage hinter einander Gefahr läuft, zu verzweifeln, und zu verlangstielen [!]. ’s ist doch gut, wenn man von Natur mit einem temperamentum phlegmaticum begabt ist; kurz bis jetzt habe ich’s noch ausgehalten. Morgen wird er wohl wieder, wie regelmäßig Sonnabends (sonst nie), Demonstrationen halten, die natürlich, in Hinsicht auf das, was er demonstrirt, auch langweilig sind, in Hinsicht freilich auf das, woran er demonstrirt, ganz interessant. Blattstellungstheorien bringt er nicht, überhaupt hat er nichts Eignes, Originelles. Mehr Untersuchungen und Entdeckungen, wie z. B. die Arbeiten von Hofmeister geliefert haben etc., nimmt er natürlich auch in seinem Vortrag, wenn gleich kurz und vorübergehend, auf; u. so finden sich doch immer Differenzen zwischen den jetzigen Heften und den frühern.a Dazu würfelt er so ziemlich Alles zusammen, was ein dummer Hund von einem Mediciner oder einem Ur-Mathes zum Examen gebrauchen kann. Sein publicum einmal in der Woche über Gräser, scheint deshalb interessanter werden zu wollen, weil er hier nur 3 Stunden demonstrirt hat, und von jetzt an bestimmen läßt.

Ist das vorbei, so kommt eine 2te mitunter auch nicht kleine Geduldprobe, i. e. Knoblauch, Heinrich Knoblauch, der berühmte Wärme-Professor, der „famose Apparate“ Besitzer dranb. Wenigstens ist es zum Davonlaufen wenn der seine Ventil-Demonstration anfängt, die ich bis jetzt mindestens 20 Mal in ganz der nämlichen ausführlichen weitschweifigen Weise angehört habe, oder wenn er den Medicinern – ich vermuthe wenigstens, daß er diese Absicht hat, wenn nicht sich selbst (?) –in fast jeder Stunde abermals vorrechnet und begreiflich macht, daß 2/1 = 2 ist, 6mal demonstrirt, daß 2 · 2 = 4 u. 8mal wiederholt, daß 3 · 4 = 12. Da ist es wirklich mitunter zum Davon-Laufen! – ||

Sonst ist Knoblauch durch seine wirklich ausgezeichnete Sammlung von Apparaten sehr annehmbar, und man sieht da alle Tage was Neues und Interessantes. Es ist nur schlimm, daß die Leute gar nicht über die Grenzen hinausgehen, welche z. B. einem Gymnasium beim Vortrage gesteckt sind; c denn wo er complicirte Gesetze angiebt, so giebt er eben nur das Resultat an, ohne auf die Art und Weise einzugehen, wie man dazu gekommen ist. Und deshalb notire ich mir auch nicht einmal so etwas, weil mir es zu unausstehlich ist, nachzuschreiben, was ich d doch nicht im Geringstene einsehe, wovon ich nicht einmal eine Ahnung habe und was ich allenfalls in jedem größern Lehrbuche, wie dem Müller-Pouillet nachschlagen kann. Doch ich will dabei nicht gesagt haben, daß dies die richtige Manier ist, ich habe auch gar nichts dagegen, daß er nur die Resultate angiebt, weil ich z. B. die Herleitung selbst nicht verstehen würde, da ich noch lange nicht differenziren und was weiß ich kann. Er sollte nur dann auch nicht die schöne Zeit mit Anmerkungen, oder vielmehr Belehrungen todt schlagen, wie, daß 2 · 2 = 4 ist u. s. w. Nun aber transeamus ad delissimum, famosum illum Burmeisterum. Der gefällt mir wirklich von Tage zu Tage besser. Das ist doch ein Mann, dem man es an jedem Worte anhört, daß er selbst gearbeitet hat, nicht blos reproducirt; daß er Meister in seiner Art ist. Wie trägt der das Abscheulichste und Obskurste interessant vor! – Mitf gleichem Vergnügen hört man ihn über die scheußlichsten ekelhaftesten Bandwürmer und was weiß ich, sprechen, als man etwa entzückt ist über seine Schilderung des Lebens der Affen in den Urwäldern. Von solch einem Manne hat man dann auch wirklich etwas Bleibendes, wenn auch kein Heft. Freilich ist es mitunter zu bedauern, daß man nicht nachschreiben kann, wenigstens wer nicht zu stenographiren versteht, und dann sind das auch solche Dinge, die man eigentlich von selbst von ihm selbst vorgetragen hören muß. Sachen, wie unterscheidende Merkmale zwischen einzelnen Gattungen und Species findet man anderwärts auch. – Sehr bezeichnend für seine ganze Naturanschauung ist übrigens das eine Wort, daß er die Zoologie die „Formenlehre“ des Thierreichs nennt. Das scheint auf den ersten Anblick nichts Geistiges zu sein, er geht auch durchaus nicht darüber hinaus, doch es ist eine vollkommen richtige Ansicht vom Standpunkte der Naturbeschreibung aus. So drückt er wunderhübsch die erste Eintheilung der Thiereg aus, indem er den Haupt-Typus der Thierklassen überblickt und mit kurzen Worten ihn im Großen und Ganzen zusammenfaßt, in irreguläre, reguläre, u. symmetrische Thiere. Und so führt er es der Hauptsache nach durch; natürlich kann er bei der Betrachtung der einzelnen Familien nicht mehr so mathematisch verfahren. – – Doch was erzähl ich Dir großem Zoologen vor; das weißt Du und verstehst Du besser als ich, und hast schon an den Schuhen abgelaufen, worin ich noch ein ganz dummer Hund bin. Ich beklage eben sehr, daß ich ein so erschrecklich dummer Hund bin, und, was das Schlimmste ist, nicht einmal viel dazu thun kann, auf daß es anders werde. Denn ich bin zu sehr von vielem Andern in Anspruch genommen, als daß ich daran denken könnte, mich ernstlich hinter die Zoologie zu setzen. – Indessen ist und bleibt dies Colleg immer eine wahre Erholung, und ich gehe stets mit großem Vergnügen hinein. Solche Lebendigkeit, solche originelle Phantasie, – dies sollte Einen auch nicht mit fortreißen, wenn man auch noch so sehr ein temperamentum phlegmaticissimum haben sollte!! – Anfangs langweilte ich mich in seinem publicum über Mastozoologie ziemlich, weil er da mit einer Masse von lateinischen gelehrten Knochennamen vorfuhr, die allenfalls ein Mediciner im 5ten oder 6ten Semester, doch kein den Fesseln des Gymnasiums soeben entsprungenes Pennal capiren konnte. Jetzt doch ist dies noch sehr interessant; weil er zur Charakteristik der Thiereh übergegangen ist. || Im Übrigen begreife ich nicht, wie er, sowie auch die meisten andern Professoren in 6 Wochen, bis wann das Semester zu Ende ist, fertig werden wollen. – Der fleißigste und pünktlichste ist in der Hinsicht entschieden der kleine Joachimsthal, dessen Colleg auch jetzt folgen würde. Indes will ich Dich nicht mit Differenzialen etc. belästigen, das ist der höhere Schwindel, doch auch unumgänglich für Physiker und Chemiker nothwendig. Bis jetzt habe ich noch wenig capirt, da ich thörigter Weise nicht sofort nach jeder Stunde Heft ausgearbeitet habe, und nun ein ziemlicher Stoß meisti unverstandenes Zeug da liegt, den zu verdauen seine eigenthümlichen Schwierigkeiten hat. Nun doch man muß dicke durch, was hilfts. Aber eben deshalb habe ich jetzt auch wenig Zeit zum Briefschreiben. – Doch weiter im Text. Von 11–12 ist eine Pause an 4 Tagen in der Woche, welche ich theils zu Studien im mineralogischen Museum verwende, theils durch Futtern ausfülle. Von 12–1 höre ich Mineralogie, wie Du schon weißt, u. von 2–3 Geologie. Beides ist mir sehr interessant, zumal die Krystallographie und ich möchte wohl wissen, wie weit Du Dich dafür interessirst, da es freilich für einen so „organischen“ Menschen seine eigenthümlichen Schwierigkeiten hat, in die verwickelten, wenn gleich im Grunde einfachen, Anschauungen u. s. w. hineinzukommen. Ein bedeutender Unterschied, und der, welcher uns, die wir von der Botanik z. B. an diese Wissenschaft herantreten, am meisten zu schaffen macht, ist allemal, daß man mit einem vorher schon erworbenen Schatz von mineralogischenj u. krystallographischen Kenntnissen an die Sache treten muß, k gleichsam nur die l vorher schon angeeignete Gelehrsamkeit an der Praxis zu handhaben und zu befestigen, mit ihr an die Natur herantreten müssen, nicht, wie bei der Botanik, die Natur selbst uns vor allen Dingen predigen und lehren lassen können. Man kann unmöglich ein Mineral, das nur einigermaßen verwickelt ist, bestimmen, wenn man nicht einen Wust von m Formen etc. im Kopf hat n. Ja das schlimmste ist, daß man sogar erst die Kennzeichen der Familien auswendig wissen muß, ehe man sie erkennen kann, und daß man hauptsächlich durch viele und wiederholte Anschauung d. h. durch Ansehen der Mineralien sie kennen lernen muß. Das sind verzweifelte Mittel. Aber wie soll man’s auch anfassen, die Dinge haben ja keine Organe, die wir zergliedern könnten; sie verhalten sich sämmtlich wie o nicht fruktificirende Pflanzen, die man auch nur nach ihrem Habitus, d. h. dadurch, dass man sie schon kennt, oder daß sie von Andern uns genannt wurden, bestimmen kann. Aber dennoch ist die Sache höchst interessant, u. ich wollte nur, es gäbe mehr Gelegenheit, sobald als möglich von dem Standpunkte eines rohen Naturzustandes und dummen Hunds ordentlich in die Sache p hineinzukommen. Später läßt sich schon leichter weiter helfen. Und sodann wünschte ich, wir könnten Beide auch hier einmal uns hinein stürzen, d. h. zusammen, wenn’s auch nur auf kurze Zeit einmal sein sollte, etwa mit einer Reise in den Harz oder was weiß ich. Doch ja Reise, – solche weit fliegenden Gedanken wie Du habe ich – zwar gehabt, um ehrlich zu sein, doch nie weiter gebracht als sie eben einmal zu haben. Auch an Helgoland habe ich merkwürdiger Weise im Stillen längst (schon voriges Jahr) gedacht. Nun ja, ich kann dies Jahr, und mag auch nicht, in die Alpen kommen; doch ziehe ich sie dem Meere und Helgoland doch unbedingt vor. Doch mir ist eine Wahl d. h. solch eine Wahl nicht gelassen. Ich denke höchstens an Thüringen, oder den Harz, oder – das Riesengebirge, obgleich auch Helgo – doch nein das nicht. ||

Das Riesengebirge – hm, das ist eigentlich nur eine verdrollene Idee, doch ’s zieht mich förmlich hin. Noch mehr denke ich freilich an den Harz und zwar, weil ich hier weniger in die Versuchung gerathen würde, zu botanisiren, und mich auf die Geologie werfen könnte. Auch würde sich hierzu vielleicht der und jener noch finden, Weber, Hetzer u. Andere, neuere Bekannte, mit denen besonders gut möglich wäre, geologische Zwecke zu verfolgen. Dann würde ich doch auch den Harz gründlich und länger aufsuchen. – Du siehst, q das sind weit simplere Pläne, als der Deinige, selbst der mit dem Riesengebirge, den ich durchaus nicht aufgesteckt habe, weil sich auch hiezu möglicher Weise Weber finden dürfte. Doch bis zu den Alpen zu fliegen – – wer vermöchte das; ich glaubte, als ich Deinen Brief las und jammerte schon, daß ich für’s nächste Jahr, auf das sich meine Hoffnungen in dieser Hinsicht stützen, den so sehr gewünschten und erwarteten Reisebegleiter verloren haben sollte. Also soll’s denn absolut nichts werden mit unserer gemeinschaftlichen Parthie, nach der ich mich schon Jahre lang gesehnt habe? – – – Nun, das mag den Göttern überlassen bleiben. Im Stillen sah ich, um Dir es zu gestehen, uns Beide schon im Teufelsgärtchen, oder im Bodekessel herumklettern, Dich botanisirend, mich das Gestein anklopfend, und theilweise das Botanisiren nicht lassen könnend. Das ist zerstoben, wie alles Schöne auf dieser Welt? – –

Mit Einem muß ich Dich doch noch bekannt machen, was Dich wahrscheinlich schon längst befremdend in diesem Brief angeblickt haben wird, nämlich dass ich Botanik, um es recht eigentlich zu sagen, schon aufgegeben habe, oder vielmehr daß ich sie eigentlich gar nicht mehr recht betreibe, sei es weil die Anregung dazu fehlt, sei es r aus einem andern Grunde. Die Wahrheit ist, denke ich mir, daß ich mich von ihr auf die Mineralogie zu werfen die Absicht habe, die mir wirklich einige Vortheile vor der Botanik voraus zu haben scheint, wenn auch viele und weit mehr Nachtheile. Nun dem sei, wie ihm sei, jedenfalls hege ich die Hoffnung, daß dies, wenn ich es wirklich so weit bringen sollte, sie ganz an den Nagel zu stecken (was mir in der That doch höchst unwahrscheinlich vorkommt; Du siehst wie thöricht und unentschlossen ich bin), keinen Eintrag zwischen unserer botanischen und hauptsächlich freundschaftlichen Verbindung oder, denke ich, richtiger Verbrüderung, thun werde. Du müßtest denn ein zu „organisch“ gesinnter Mensch sein, um Dich mit „unorganischen“ Gebilden befassen zu mögen. Übrigens liegt auch Alles noch im Stadium des sich entwickelnden Embryo.

Nun, lieber alter guter Herzens-Junge, ich möchte doch wohl schließen, zumal da Dein Bruder in 1/2 Stunde hier ankommen wird. Noch Manches könnte ich schwatzen, wenn Du Geduld und ich Zeit dazu hätte; doch Beides geht auf die Neige und so will ich ein Allzuviel nicht eintreten lassen. Noch bitte ich Dich, herzlich meinen lieben guten Onkel von mir zu grüßen und ihm zu sagen, daß ich nächstens an ihn zu schreiben gedächte, ihm auch zu erzählen, daß ich jetzt s 2 Stunden wöchentlich bei Girard Übungen am Feldspath hätte, die mich höchlichst interessirten. Das wäre zugleich vielleicht auch etwas für Dich, wenn eine derartige Übungsstunde in Berlin an irgend welchem Mineral gehalten würde; ich glaube, hier würdest Du der Sache Interesse abgewinnen müssen. Doch leb’ wohl, grüße auch Herrn Córodi, den uns zugeschickten 7Bürgner, ein sehr netter Mensch, den ich gern hier in Halle gehabt hätte, oder haben würde.

Dein treuer

Weiß.

a mit Einfügungszeichen eingef.: Neue Untersuchungen … den frühern.; b eingef.: dran; c gestr.: wenigstens; d gestr.: im Grunde; e eingef.: im Geringsten; f gestr.: welcher; g eingef.: der Thiere; h eingef.: der Thiere; i eingef.: meist; j gestr.: oder genauer; k gestr.: nicht; l gestr.: xxx; m gestr.: gelehrten; n gestr.: , und wenn; o gestr. niem; p gestr.: selbst; q gestr.: daß; r gestr.: xxx; s gestr.: in

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.06.1854
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 16634
ID
16634