Schultze, Fritz

Fritz Schultze an Ernst Haeckel, Dresden-Plauen, 31. Oktober 1904

Dresden-Plauen, 31.X.04

Würzburgerstr. 44.

Hochverehrter Meister und lieber Freund!

Wiederum haben Sie meiner in so freundlicher Weise gedacht. Nach der Rätselwelt der Welträtsel machen Sie mir nun auch eine Wunderwelt von Weltwundern zum reichen Geschenk. Ich habe bis jetzt nur erst Vorwort und 1. Kapitel in dem Werke lesen und das übrige durchblättern || können, aber dabei sogleich bemerkt, daß Sie auch meine Kleinigkeiten in so liebenswürdiger Weise berücksichtigt und der ihnen sonst vielleicht drohenden Vergessenheit entrissen haben. Ein zweites Geschenk im ersten, das ich als solches voll zu würdigen weiß! Nehmen Sie für alles tausendfach meinen aufrichtigsten, innigsten Dank! Sie wissen gar nicht, || wie sehr mein Herz schon seit meiner Jenaer Privatdocentenzeit, wo Sie so mutig als mein Beschützer für mich eintraten, Ihnen gehört; wie oft ich auch hier borniertem Unverstand gegenüber, der eines Haeckels tapferes geistiges Freiheitsstreben nicht versteht und zumal von seinem reinen, goldigen Charakter und Gemüt keine Ahnung hat, einen blitzblanken || Schild der Abwehr entgegengehalten und mit scharfem Zungenschwert dreingeschlagen habe. Denn wenn ich Ihnen auch offen bekenne, daß ich mich nicht immer Ihren positiven Aufstellungen anschließen kann, so stimme ich doch in dem meisten Negationen mit Ihnen überein, vor allem aber in der Bekämpfung jeder Art des unseren geistigen || Fortschritt hemmenden Dogmatismus, auf welchen Gebiete und in welcher Gestalt er auftreten möge. Habe ich auch, offen gesagt, manchmal das Bedenken, daß manche Ihrer positiven Lehren gewagt und auf die Dauer nicht haltbar sein dürften, so habe ich doch auf der anderen Seite meine helle Freude an dem unverzagten Mut, mit dem || Sie trotz einer Welt von dunklen Feinden für Ihre Ueberzeugungen kämpfen und damit eine Charaktereigenschaft, nämlich die der unbegrenzten Wahrhaftigkeit, offenbaren, die so selten ist, aber die auch, in so glänzender Weise in Ihren Werken dargestellt, unvergängliche ethische Wirkungen auf das deutsche Volk ausüben muß, || sollten selbst manche Ihrer theoretischen Meinungen sich als vergänglich erweisen.

Was mich betrifft, so bin ich in den letzten vier Jahren durch allerlei amtliche Neuerungen an unserer Technischen Hochschule, die besonders mich betrafen, in meiner schriftstellerischen Tätigkeit sehr gehindert und aufgehalten worden. Jetzt aber sind die größten Schwierigkeiten überwunden, || und ich hoffe nun, ein Werk fertig stellen zu können, an dem ich schon seit einem Jahrzehent und längera arbeite, eine Geschichte der Philosophie „für gebildete Leser“, deren Tendenzen, um es kurz zu sagen, mit den Ihrigen einer Befreiung der Menschheit von dogmatischen Fesseln im hohen Grade zusammenstimmen. Eine solche antidogmatische und || für jeden Gebildeten wirklich schmackhafte und genießbare Geschichte der Philosophie von nicht zu großem Umfang fehlt uns; auf Grund aber meiner langjährigen und meistens vor großem Publikum vollzogenen Behandlung des Stoffes glaube ich das Zeug zu haben, sie zu schreiben; skizziert ist bereits das Ganze; es bedarf nur noch der letzten Stilisierung und Feilung.||

Endlich bewegte mich sogar noch die kühne Idee eines ganzen Systems der Philosophie, in dem ich meine ganze Weltanschauung niederlegen b und besonders das darstellen möchte, was dem Naturforscher und Naturphilosophen weniger geläufig ist, wie Erkenntnistheorie, Ethik, Religionsphilosophie und Aesthetik. Doch ϑεῶν ἐν γούνασι κεῖται!||

Meine Frau hat sich ungeheuer gefreut, daß Ernst Haeckel sie bei ihrer letzten Anwesenheit in Jena im August dieses Jahres nach so langer Zeit wiedererkannt und begrüßt hat. Sie hat mich besonders beauftragt, es Ihnen mitzuteilen; sie ist stolz darauf, und die sonst so Bescheidene rühmt sich damit, wenn das Gespräch darauf kommt.||

Ich hätte Ihnen noch so vieles zu sagen, muß es aber gelegentlicher mündlicher Unterredung überlassen, auf die ich im Laufe des nächsten Jahres hoffe, da ich selbst einmal wieder Jena zu besuchen gedenke. Darf ich um freundliche Empfehlung meiner Frau und meiner selbst an Ihre Frau Gemahlin bitten? Ich aber bleibe mit den herzlichsten Grüßen an Sie (denen meine Frau die ihrigen hinzufügt) Ihr stets dankbarer ergebener Schüler

Fritz Schultze.

a korr. aus: längerem; b gestr.: möchte

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
31.10.1904
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16328
ID
16328