Thiele, Carl Heinrich

Carl Heinrich Thiele an Ernst Haeckel, Solln, 18. August 1914

Solln, den 18. August 1914

Hochgeehrter Meister !

Nachdem ich schon vor einigen Tagen in den Münchner N. Nachrichten einen Auszug aus Ihrem Artikel über den Weltkrieg gelesen hatte, ward mir heute früh die große Freude zuteil, das Original desselben aus Ihrer eigenen Hand zu erhalten. Ich beeile mich Ihnen dafür meinen allerherzlichsten Dank auszusprechen, erblicke ich doch in der persönlichen Widmung einen Beweis dafür, daß Sie, hochverehrter Lehrer, auch des Geringsten der Ihrigen in dieser schweren Zeit nicht vergessen haben. Es ist wohl überflüssig ausdrücklich zu betonen, daß auch ich voll und ganz auf dem von Ihnen vertretenen Standpunkt über die Weltlage stehe. Bis zum letzten Augenblick habe ich noch auf Englands Vernunft gehofft, die es || von einem so ungeheuer kulturwidrigen Bündnis, wie demjenigen mit Rußland abhalten würde ‒ leider vergebens. Mir scheint die ganze Menschheit einer heillosen Manie verfallen zu sein, daß sie sich nicht klar wird, was bei diesem Krieg herauskommen soll! Zwar regen sich in allen Ländern wenige, leise Stimmen der Vernunft ‒ so auch in England ‒ aber es ist ja leider nicht anzunehmen, daß sie gehört werden, da die ganze Welt unter dem Bann der Kriegsfurie steht und jeder gesunden Ueberlegung unfähig ist. Selbstverständlich ist es jetzt heilige Pflicht, jedes Deutschen ein Kulturkämpfer zu sein, und auch ich bin es in einem mir zusagenden Sinne, da ich nach Alter und Körperkraft nicht mit dem Schwerte mehr handeln kann. Ich arbeite im Dienst des roten Kreuzes im Verein mit meiner Tochter, die in einem hiesigen Privatlazarett als helferin tätig sein wird. || So arbeitet wohl wirklich jeder nach seinen Kräften für die gemeinsame Sache. So notwendig und hocherfreulich jetzt die Einigkeit aller Deutschen ist, so sehr macht sich aber auch jetzt schon die Gefahr einer großen politischen und religiösen Reaktion geltend. Ich habe da vor einigen Tagen einen Artikel in d. Augsburger Abendzeitung gelesen, der höchst bezeichnend ist für die in manchen Kreisen herrschende Stimmung. Derselbe enthielt einen derartigen Blödsinn und wirkt so deprimierend auf einen Monisten, daß ich ihn anbei zu Ihrer gütigen Durchsicht mit der Bitte um gelegentliche Rückgabe mitsende. ‒ Im Uebrigen gebe ich mich der Hoffnung hin, daß es Ihnen, hochverehrter Meister, vergönnt sein möge am Abend Ihres tatenreichen, ergiebigen Lebens doch auch Deutschlands Stern hell aufflammen zu sehen, und in diesem Sinne begrüße ich Sie in steter Verehrung und Dankbarkeit als Ihr ganz ergebener Jünger und Schüler

CH. Thiele

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
18.08.1914
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 13107
ID
13107