Kraigher-Porges, Josepha

Josepha Kraigher-Porges an Ernst Haeckel, Paris, 12. Juli 1900

Zürich I Kirchgasse 21

den 5. Oktober 1900

Lieber, teurer Herr Professor!

Lassen Sie sich in die Ferne tausendmal grüßen, aus vollem Herzen immer wieder grüßen. Täglich und wiederholt weilen meine Gedanken bei Ihnen. Meine Gedanken, meine Liebe und meine Sorgen. Kann Ihnen in den Tropen wol nichts geschehen? Trotzdem ich eine Riesenfreude über diese Ihre Reise habe, bin ich oft doch auch voll Angst um Sie, Sie lieber einziger 66jähriger Jüngling!

Sind Sie befriedigt von all dem || was Ihnen Indien gibt? Wie mögen Ihre seltenen Augen alle die Herrlichkeit schauen! Möge Ihnen aller Segen werden!

Lieber Herr Professor, ich bin mit meinem Töchterchen stabil nach Zürich gesiedelt. Da das Kind nach unseren österreichischen Gesetzen erst mit 14 Jahren aus der Kirchengemeinschaft austreten kann u. der Religionszwang bei uns herrscht, ich das 10jährige aber um keinen Preis dem Beichtstuhl ausliefern mag, bin ich außer Landes gegangen. Meiner Ansicht nach, genügt es nicht, bloß innerlich nichts zu glauben, man muß sich || auch äußerlich von der Kirche loslösen, denn die große nummerische Zahl der Katholiken bedeutet für die Kirche immer eine imposante Macht, mit der die Ueberschlaue ja stets geschickt zu manövrieren verstand. Zahlen sprechen leider auch dort, wo sie zum Teil nichts bedeuten! So trat ich ofiziell [!] aus der Kirche [aus] und so soll es mein Kind in 4 Jahren machen.

Hier fand ich zu meiner freudigen Ueberraschung eine Privatschule in der gar kein Religionsunterricht erteilt wird. Dr. phil. Fritz von Beust hält diese Schule. Uebernahm sie von seinem Vater, der ein preußischer Flüchtling im 48er Jahr hierherkam. Dort werden auch Knaben und Mädchen gemeinsam unterrichtet, was ich vernünftig finde, und überhaupt herrscht keine so hölzern-philiströse Methode, wie in allen anderen Schulen.

Ich denke das freut Sie, wie jeder geringste Fortschritt, darum wollte ich es Ihnen gerne erzählen.

Und nun adieu, bleiben Sie uns gesund, Sie Lieber, und kehren Sie schätzebeladen heim. Glück auf!

In Treue

Ihre Fina Zacharias

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
05.10.1900
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 11858
ID
11858