Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Mühlheim an der Ruhr, 14. Februar 1900

Mülheim Ruhr, den 14. 2. 1900

Mein lieber, lieber Ernst!

Welch übergroße Freude hast Du mir durch Zusendung Deines Werkes über „Die Welträthsel“ gemacht u. namentlich durch Deine eigenhändige Dedication. Nur theilweise u. bedingt werde es mir gefallen? Lieber Freund! Ich bin Verehrer der monistischen Philosophie, u. sie wird die Weltanschauung der künftigen Zeit werden, ist es schon jetzt in den Köpfen unbefangner Denker. Aber die Form, in der sie welterobernd auftreten wird, ist noch nicht gefunden. Noch hängen ihr, wie dem auskriechenden Vöglein, die Eierschalen an. Noch betont sie und muß im Kampfe gegen die dualistische Theorie betonen u. zwar in störender Weise die physikalische, chemische Seite des Weltalls. || Ich hoffe, daß die physikalische u. chemische Wissenschaft immer tiefer eindringend Resultate zu Tage fördern wird, wodurch die Vorstellung der Materie und der Dynamis wesentlich vergeistigt werden wird, sodaß all die herrliche Blütenpracht des Weltalls, die wir jetzt oder bisher unter der Rubrik „Geistesentwicklung“ bewundern, dem menschlichen Geschlecht erhalten bleibt. Du glaubst dieser Forderung durch das Kapitel „monistische Sittenlehre“ gerecht zu werden. Gewiß machst Du einen wackeren, Dir selber genügenden, und in seinem Bestande unanfechtbaren Anlauf, aber er erfaßt nicht die Tiefen des Herzens; der Anlauf muß fortgesetzt werden und Lebensgebiete eingehend umfassen, die Deinen anstrengenden Studien ferner liegen. Auch das ganze Elend, auch die beklagenswerthen Verirrungen u. Irrthümer, || nicht nur in Wissenschaft u. Religion, sondern überhaupt in Geschichte, in Gesellschaft, im persönlichen oder individuellen Leben, und die himmelschreienden Verbrechen etc. müssen in das Material für eine allgemein gültige Weltanschauung einbegriffen werden. Nach dieser Richtung geht seit lange – soweit neben der vielen, vielen Arbeit mir Zeit blieb – mein Denken. Ach, wie wünschte ich, noch Zeit u. Kräfte zu behalten, um aus meinem stillen Sinnen einige brauchbare Kapitel für die Grundlinien einer streng monistischen Moral für persönliches u. für Staatsleben zu fixiren. Aber ich bin schon 69 Jahre alt, älter als Du; jedoch fühle ich mich noch oder vielmehr wieder geistesfrisch und darf also hoffen. Auch erfreut die Entwicklung meiner Kinder u. besonders ihre humoristische Begabung mein Alter. Ach, umso mehr bedaure ich, daß Dir lieben, gutem Gemüthsmenschen || die Krankheit Deiner Frau u. Deiner Tochter das Glück umschattet. Ich hoffe, daß die Art der Krankheit eine Genesung nicht unmöglich macht, und in diesem Falle wünsche ich Dir zu Deinem Geburtstage (am 16. Februar, wenn es so geblieben ist) vor allem, daß dieses Leiden von Dir genommen wird.

Und nun endlich, was von vornherein hätte geschehen sollen, meinen herzlichen Glückwunsch sowie den meiner Frau, zu dem großartigen Erfolge, den Dir der 6. Januar gebracht hat. Also solch vernünftige Leute giebt es in Turin, im papistischen Italien? Dann braucht man noch nicht an dem romanischen Sprachenstamm zu verzweifeln.

Und nun für heute Adé, Du lieber Ernst.

Dein

Finsterbusch

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.02.1900
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10971
ID
10971