Reinhardt, L...

L. Reinhardt an Ernst Haeckel, Basel, 8. Juni 1900

L. Reinhardt

V. D. M.

Basel, den 8 Juni 1900

Rütlistrasse 53

Herrn Prof. Dr. Ernst Haeckel in Jena

Geehrter Herr Professor!

Ihre Studien über „Monistische Philosophie“ haben mich von jeher interessiert & wenn ich auch ihren materialistischen Standpunkt nicht teilen kann, so hindert mich dasselbe doch durchaus nicht, der von Ihnen vertretenen Wahrheit volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. – Was Sie vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus anstreben, das habe ich seit dem Jahre 1873 vom religiös-christlichen Standpunkte aus verfochten, so daß man schon damals meine Bestrebungen „christlichen Darwinismus“ nannte.

Auch mir ist die phantastische Ideologie & der dualistische Spiritualismus die tiefste Wurzel aller Übel an denen nicht nur unsere Zeit, sondern von Alters her die ganze Menschheit krankt & warum siea einer gesunden Entwicklung unfähig ist. Ich habe deßhalb vor 1½ Jahren ein Buch geschrieben das den Titel führt: „Die einheitliche Lebensauffassung als Grundlage für die soziale Neugeburt“, worin ich aus dem Denkgesetz von „Ursache & Wirkung“ die Entstehung & Entwicklung der Welt & alles Geisteslebens zu erklären suchte. Als Motto stellte ich der Schrift die Worte voran: „Die einheitliche Lebensauffassung des persönlichen Aussichselbstwerdens oder der konsequente Entwicklungsgedanke will für unser gesamtes inneres & äußeres Leben denselben fundamentalen Umschwung hervorrufen, welchen Kopernikus zunächst nur in der Astronomie gebracht hat. – Man prüfe!“ – ||

Da ich vom Standpunkte der monistischen Weltanschauung aus kein spiritualistisches Jenseits gelten ließ & sogar nachwies, daß die monotheistische Bibel & die durchaus diesseitige Messiashoffnung des Uhrchristentums kein immateriellesb Jenseits kenne & lehre, sondern daß der altheidnische & mittelalterliche Aberglaube von der Unsterblichkeit der Seele, vom Götterhimmel, von der Hölle etc. erst im nachapostolischen Alter besonders durch die alexandrinische Schule & Philosophie (Gnosis) dem Christentum & der Bibel untergeschoben worden sei, so wurde ich natürlich von orthodoxer Seite heftig angegriffen.

Dies veranlaßte mich neuerdings ein kleines Buch herauszugeben mit dem Titel: „Kennt die Bibel das Jenseits & woher stammt der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, an Hölle, Fegefeuer (Zwischenzustand) & Himmel?“ Darin habe ich nun wissenschaftlich aus den Keilinschriften, Hieroglyphen, aramäischen & griechischen Schriften nachgewiesen, daß die Ägypter & Protobabylonier diese Dinge kannten & lehrten lange ehe der biblische Monotheismus durch Abraham begründet wurde. Die Sache erregte hier großes Aufsehen & es kam zu großen Volksversammlungen & Disputationen von denen die Frankfurter Zeitung & viele andere Blätter berichteten. In Oesterreich wurde letzteres Buch sogar polizeilich verboten.

Natürlich bin ich mir klar bewußt, daß zwischen Ihrem materialistischen & meinem monotheistischen Monismus noch ein tiefgreifender & scheinbar unversöhnlicher Widerspruch besteht, aber der Schein kann trügen & hat schon oft getrügt. Ich erkenne der Naturwissenschaft das Recht zu, dem bisherigen, völlig unhaltbaren spiritualistischen Dualismus gegenüber so vorzugehen als ob kein Geist existiere, sondern alle Erscheinungen des Lebens aus Kräften der realen Welt erklärt werden könnten. Freilich wird sich jedem vorurteilsfreien Naturforscher bald zeigen, daß das Universum (so wenig wie der einzelne Mensch) keine geistlose Maschine ist, sondern daß neben, ja über den unbewußten, mechanischen Naturkräften auch bewußte, geistige Lebenskräfte walten. ||

Bei allen organischen Wesen, besonders aber beim Menschen ist diese Thatsache unleugbar. Nun ziehtc der oberflächliche Materialismus daraus, daß für uns Menschen das materielle Sein der in ihr sich bemerkbar machenden, an sich unsichtbaren Energie vorauszugehen scheint, den Schluß, daß dem wirklich so sei. Aber ist dies wirklich vernünftig? Gewiß nicht; denn das aller Logik & aller Entwicklung zugrundeliegende Kausalgesetz sagt uns, daß die zunächst unsichtbare Ursache oder Energie der durch sie verursachten & dadurch in die Erscheinung tretenden Wirkung vorausgehen muß. Wir müssen also auf alles Denken & alle eigene persönliche Lebenserfahrung verzichten, oder wir müssen anerkennen, daß die an sich unsichtbare Energie oder Ursache der in die Erscheinung tretenden Realität oder Wirkung logisch (nicht aber zeitlich) vorausgeht. Da beide, Ursache & Wirkung, unsichtbare Energie & sichtbare Realität, untrennbar zusammengehören & nicht zwei verschiedene Wesen, sondern nur die zwei Seiten ein und desselben Dinges sind, so scheint der Streit um die Priorität der Energie oder der Materialität fast wie ein Streit um des Kaisers Bart. Aber für die Logik & die ganze Lebensauffassung ist diese Frage von alles entscheidender Wichtigkeit. Die Naturwissenschaft, welche die einzelnen Naturerscheinungen zu erforschen & zu erklären hat, darf & muß die jeder einzelnen Naturerscheinung vorausgehenden früheren Naturerscheinungen als völlig maßgebend voraussetzen; sie ist & muß ihrem innersten Wesen nach realistisch sein. Ganz anders die Geisteswissenschaft, oder die Religion oder Philosophie. Sie beschäftigt sich nicht zunächst mit einzelnen Naturerscheinungen, sondern mit dem Zusammenhange & mit der Grundursache aller Dinge. Hier muß die unsichtbare Energie, oder Ursache, als das Erste & Alles bestimmende anerkannt werden, wenn nicht alles auf den Kopf gestellt werden soll. – Sind Ursache & Wirkung nicht zwei verschiedene Dinge, sondern nur zwei Seiten ein & desselben Seins, so müssen offenbar beide einander ganzc entsprechen & es kann nichts in der Wirkung an den Tag treten, was nicht vorher schon in der Ursache enthalten war. Mit anderen Worten: || Die (alle Entwicklung umfassende) reale Natur könnte nicht im persönlichen Wesen gipfeln, wenn nicht schon der Urgrund ein persönlicher wäre. Wer Gott überpersönlich nennen wollte, der müßte zuerst beweisen, daß es überpersönliche Wesen gibt & daß die reale Entwicklung die Entstehung charaktervoller Persönlichkeiten ausschließt. Da dieser Nachweis absolut unmöglich ist, so bleibt nichts übrig, als die Persönlichkeit Gottes anzuerkennen & mit Paulus zu sagen: das Ziel oder Ende aller Entwicklung ist: daß Gott sei Alles in Allem (πάντα έν παδϊν, Kor. 15, 28).

Nun werden Sie sich zwar gegen die letzten Consequenzen des Kausal- oder Entwicklungsgesetzes verwahren, aber dies hindert mich nicht die volle Wahrheit der von Ihnen nachgewiesenen natürlichen Entwicklung anzuerkennen & Ihnen im Namen der Religion & des Christentums zu danken für den Dienst welchen Sie der Wahrheit & der Menschheit geleistet haben (neben Darwin & Andern). Zwar muß ich es ebensosehr bedauern, daß Sie als bis jetzt noch blinder Saulus gegen Christum & die in ihm uns geoffenbarte Gotteswahrheit wüten, aber dies kann & will ich gerne damit entschuldigen, daß die sogenannte christliche Kirche noch viel, viel mehr gegen die Wahrheit & gegen die göttliche Entwicklungslehre, wie sie auch Christus vertrat (z. B. Marc. 4, 26-29) gesündigt hat & noch immer sündigt. Gegenüber von einer starren Orthodoxie mit den unabänderlichen Ideen des Heiden Plato & vollends gar gegenüber von der römischen Inquisition mit ihrer klerikalen Herrschsucht ist Ihre Wut nicht nur erklärlich, sondern völlig berechtigt. Aber wie kann man Christus, das unschuldige Opfer der Pfaffen seiner Zeit, verantwortlich machen wollen für das was die Pfaffen aller Zeiten gesündigt haben? Gegen diese, nicht gegen ihr Opfer, muß sich Ihre Wut richten.

Geschieht dies, dann steht der Versöhnung zwischen Christentum & Naturwissenschaft kein Hinderniß mehr im Wege & dann werden auch viele Anstöße wegfallen, die Ihr christusfeindlicher Monismus vielen aufrichtigen Christen bereitet. Arbeiten christliche Wahrheit & vernünftige Naturwissenschaft zusammen zum Sturze der heuchlerischen Lüge & der scheinheiligen Pfaffenherrschaft, dann kann keine Macht der Welt ihnen widerstehen & der Sieg ist unser. Dies zu erreichen ist der Zweck meines Briefes. Darf ich Ihnen meine Bücher zusenden & sind Sie zur Prüfung bereit?

Mit Hochachtung

L. Reinhardt

a eingef.: warum sie; b korr. aus: immaterialistisches; c gestr.: schließt, eingef.: zieht; c eingef.: ganz

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
08.06.1900
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10943
ID
10943